Sich bei der Lektüre eines Horrorromans wohlzufühlen, ja, sogar das Gefühl zu haben, nach Hause zu kommen – das klingt paradox. Doch genauso ging es mir mit „Doctor Sleep“. Natürlich wartet Stephen Kings Fortsetzung von „Shining“ mit Horror und Grausamkeiten wie (häuslicher) Gewalt und Folter auf. Aber es bietet auch so viel mehr an zwischenmenschlichen Beziehungen, Freundschaft, Vertrauen, persönlichem Wachstum und (innerem) Frieden. Vor allem aber birgt das Wiedersehen mit dem inzwischen erwachsenen Daniel Torrance viel Vertrautheit und Wiedersehensfreude.
Vor der Lektüre von „Doctor Sleep“ war ich skeptisch: Fortsetzungen sind oft enttäuschend und dann auch noch die Fortsetzung eines solchen King-Klassikers nach Jahrzehnten – kann das funktionieren? Schon nach wenigen Absätzen merkte ich aber, dass Stephen King mich erneut an seine Figuren bindet und ich tief in Dannys Welt eingetaucht bin.
Stephen King hat Dannys Charakter und Lebensweg in all den Jahren glaubhaft weitergedacht: Aus dem kleinen Jungen, der die schlimmsten Dinge sehen und erleben musste, ist ein rast- und ruheloser Mann geworden, der immer mehr seinem Vater ähnelt. Seit vielen Jahren ist Dan abhängig vom Alkohol, gelegentlich kommen weitere Drogen wie Kokain dazu. Er hält es an keinem Ort lange aus – oder die Orte halten ihn nicht lange aus. Demnach fehlt ihm auch ein stabiles soziales Umfeld. Darüber hinaus wird er schnell aggressiv und – vor allem im alkoholisierten Zustand – gewalttätig.
In der neuenglischen Kleinstadt Frazier wird aber alles anders. Dan geht zu den Anonymen Alkoholikern und findet Stabilität und ein Zuhause. In dem Hospiz, in dem er arbeitet, nennt man ihn Doctor Sleep, weil er Menschen in ihren letzten Lebensminuten beisteht und mit seinem Shining das Sterben erleichtert.
In Frazier nimmt auch zum ersten Mal Abra Stone Kontakt zu Dan auf – obwohl sie zu diesem Zeitpunkt ein Kleinkind ist. Dan und Abra haben sich nie getroffen, aber Abra kennt Dannys unsichtbaren Kindheitsfreund Tony und verfügt ebenfalls über das Shining. Ihr Shining ist jedoch noch um ein Vielfaches stärker als das von Dan oder anderer Menschen.
Dans und Abras Lebenswege, ihre wachsenden Fähigkeiten und ihre Freundschaft zu verfolgen, liest sich großartig und authentisch. Hätte King einen Roman geschrieben, in dem es allein darum ginge, wäre selbst dieser für mich nicht langweilig geworden. Ich habe mit Dan in jedem Moment seines Lebens jede Emotion mitgefühlt und fand es spannend, wie er für Abra ein Mentor und Onkel wurde. Mit Abra hingegen hat King eine selbstbewusste, schlagfertige, kluge, humorvolle, mutige, resiliente, aber dennoch sensible und großherzige Protagonistin geschaffen, die viel Potenzial mitbringt, um im King-Kosmos eine noch größere Rolle zu spielen.
Schwierigkeiten hatte ich indes lange Zeit mit dem Handlungsstrang um die Vampirsekte „The True Knot“. Die Mitglieder des True Knot leben von dem Shining anderer Menschen, das sie als „Steam“, also Dampf, inhalieren. An diesen Steam kommen sie entweder bei Ereignissen, während derer viele Menschen sterben (bspw. Attentaten, Naturkatastrophen), oder indem sie Kinder foltern und ermorden. Obwohl King bei diesen Szenen selten explizit wird, wird uns Lesenden deutlich, wie brutal und qualvoll The True Knot vorgeht. Dass eine bestimmte Szene im Buch immer wieder als Erinnerung aufgegriffen wird, war mir an manchen Tagen etwas zu viel. Doch es war in erster Linie die Idee des True Knot an sich, mit der ich lange nicht warm wurde. Diese Idee schien nicht so recht in die restliche Welt von „Shining“ und „Doctor Sleep“ zu passen, wirkte beliebig und weit hergeholt. Ab der Hälfte des Romans fügte sich der Handlungsstrang um The True Knot aber zunehmend besser in die Stories um Abra und Dan ein – bis sich alle drei Fäden schließlich eng zu einem verflochten. Ab hier wirkte alles für mich sitmmiger. King hat es geschafft, Abra, Dan und The True Knot als sehr starke, ebenbürtige Gegner*innen aufeinandertreffen zu lassen. So erhält die zweite Romanhälfte eine immer stärkere Dramatik, die in einem Showdown an einem uns King-Lesenden nicht unbekannten Ort gipfelt. Entsprechend habe ich die zweite Hälfte des Buches auch in deutlich höherer Geschwindigkeit gelesen, als es in der ersten Hälfte oder bei anderen Büchern der Fall ist. Am Ende wurde ich sogar wehmütig, dass meine Zeit mit Dan und Abra (vorerst?) vorbei ist, denn mit ihnen hat Stephen King wieder bewiesen, was er neben Horror am besten kann: glaubhafte, vielschichtige und nahbare Figuren kreieren, die sich nicht wie fiktive Figuren lesen, sondern wie reale Menschen, die man seit vielen Jahren kennt.
Fazit:
„Shining“ war und ist eines der besten Bücher von Stephen King. Die Fortsetzung „Doctor Sleep“ steht dem in nichts nach, wenngleich der Fokus weniger auf klassischem Horror liegt. Vielmehr widmet sich King seinen anderen Stärken: der Skizzierung von (menschlicher) Grausamkeit, Charakteren, Figurenkonstellationen und Zwischenmenschlichkeit – angereichert mit einer guten Menge Mystery.
Stephen King: „Doctor Sleep“ (The Shining Band 2), Hodder & Stoughton 2013, eBook-ISBN: 978-1-444-76119-1, ASIN: B009LOJK1Q
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