Es tritt zuerst bei Mädchen ab 15 Jahren auf, später entwickeln es immer mehr Frauen und Mädchen: Mit ihren Händen können sie Stromstöße abgeben. Grund dafür ist ein Strang auf Höhe des Schlüsselbeins, über dessen Ursprung verschiedenste Theorien in den Raum gestellt werden und der nun gezielt trainiert wird. In kürzester Zeit kippt die Machtverteilung auf der ganzen Welt. Plötzlich sind es nicht mehr die Männer, die alles dominieren, die die besten Jobs bekommen und das Sagen haben. Die patriarchalischen Gesellschaften wandeln sich zu matriarchalischen. Nun werden die Männer und Jungs unterdrückt und fürchten sich, wenn sie allein unterwegs sind.

Naomi Alderman erzählt ihr Szenario über eine Spanne von 10 Jahren hinweg aus der Sicht mehrerer (fast ausschließlich weiblicher) Personen: Allie musste von Pflegefamilie zu Pflegefamilie ziehen und wurde von ihrem Stiefvater missbraucht; Roxy sah mit an, wie ihre Mutter ermordet wurde; Margot giert nach politischer Macht und nutzt ihre Tochter Jocelyn immer wieder als Mittel zum Zweck, ihre politischen Ziele zu verwirklichen; Tunde war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, hat sich einen exklusiven Rang unter den Frauen erarbeitet und berichtet seitdem als gefeierter Journalist über die weltweiten Entwicklungen. Sie alle profitieren in irgendeiner Form von der neuen Kraft der Frauen und dem gesellschaftlichen und politischen Umbruch – verlieren dabei aber auch zunehmend sich selbst und die, die ihnen nahestehen.

„The Power“ wurde seit seinem Erscheinen umjubelt und schien eines DER Bücher unserer Gegenwart zu sein. Mit dem grundlegenden Setting und den ersten Kapiteln über Allie und Roxy hatte Naomi Alderman auch mich schnell für ihre Geschichte gewinnen können. Nach dem ersten Drittel macht sich jedoch zunehmend Enttäuschung und sogar Langeweile breit. Nichts in „The Power“ war überraschend oder sonderlich schockierend, nichts fand sich darin, das mich ins Grübeln brachte. Dass eine von Frauen dominierte Welt nicht automatisch eine bessere ist, sollte schon vorher allen klar gewesen sein. Überall, wo ein Machtungleichgewicht herrscht, wird diese Macht auch ausgenutzt und zur Gefahr für andere. Wenn das allein Aldermans Botschaft und Ziel des Buches war, ist das ganz schön dünn und lahm.

Auch abseits der eigentlichen Intention und potenziellen Wirksamkeit schwächelt „The Power“ auf zu vielen Ebenen. Der Roman leidet vor allem darunter, dass Naomi Alderman versucht hat, eine Spanne von 10 Jahren mit all ihren politischen, wirtschaftlichen, zwischenmenschlichen und religiösen Entwicklungen in weniger als 340 Seiten zu quetschen. So bleiben die Figuren durchgehend oberflächlich und unnahbar. Ich bekam keinerlei Gespür dafür, wer sie wirklich sind, was sie zu den Menschen macht, die sie sind. Den ganzen Roman hinweg bleiben sie allein durch ihre Traumata, Karrieren und ihre (Un-)Fähigkeiten im Einsatz der Kraft definiert. Was sie abseits ihrer traumatischen Erfahrungen und Karriereambitionen antreibt, bleibt nahezu im Dunkeln. Und im Endeffekt sind sie fast alle keine guten Menschen, sie unterdrücken, üben Gewalt aus, bereichern sich und denken vor allem an ihren eigenen Vorteil. Das gilt für alle Figuren unabhängig ihres Geschlechts und ihrer Herkunft. Es läuft zugespitzt darauf hinaus, dass die Menschheit an sich einfach schlecht ist. Auch keine neue Erkenntnis.

Hinzu kommt, dass Naomi Alderman sich auf politische Intrigen, religiöse Strömungen, Drogengeschäfte und Figuren mit einer besonderen, machtvollen Position konzentriert. Wie der Alltag in dieser sich wandelnden Welt tatsächlich aussieht, wie Menschen abseits der Eliten fühlen und leben, bleibt schwammig. Hin und wieder streut Alderman ein paar Bilder fiktiver historischer Artefakte ein, die jedoch kontextlos bleiben. Ihre anfänglichen Ansätze über wissenschaftliche und biologische Fragestellungen verlieren sich sehr schnell im Nichts. Stattdessen springen wir von einem Ereignis zum nächsten, ohne dass glaubhaft geschildert wird, wie es konkret und sukzessive zu dieser Entwicklung kam. Es scheint, als würde alles immer von heute auf morgen passieren, als fielen Allie, Roxy und Margot all ihre Erfolge einfach so zu und als würde ihnen blind auf Anhieb gefolgt und geglaubt werden. So bleiben viele Fragen unbeantwortet und viel Potenzial ungenutzt. All diese Aspekte stellen Aldermans erschaffenes Szenario auf ein sehr dünnes, löchriges Fundament.

Fazit:

Naomi Aldermans gefeiertem Roman hätte es gutgetan, die erzählte Zeit zu reduzieren und sich wirklich Raum für diese alternative Wirklichkeit zu nehmen. So jedoch wird in „The Power“ vieles nur kurz angerissen und nichts zufriedenstellend ausgearbeitet.

Naomi Alderman: „The Power“, Penguin Books 2017, ISBN: 978-0-670-91996-3