„Irgendwann einmal – es ist lange her, oder vielleicht war es in der Zukunft, niemand weiß es mehr genau“ – bereits mit diesen ersten Worten zeigte mir Hayao Miyazaki wieder einmal, warum ich seine Werke so liebe: Seine Geschichten sind zeitlos, vereinen historische und futuristische Elemente. Und allein mit diesem Einstieg in „Shunas Reise“ und den ruhigen Aquarellzeichnungen holte Miyazaki mich binnen Sekunden aus meinem Lesetief der letzten Wochen.
„Shunas Reise“ erschien bereits 1983 in Japan. Doch erst 40(!) Jahre später schaffte es der Manga dank Reprodukt und der Übersetzung von Nora Bierich in den deutschsprachigen Raum.
Der titelgebende Protagonist Shuna ist Prinz eines kleinen Königreiches in den Bergen. Die alpine Landschaft ist wunderschön, aber auch sehr lebensfeindlich: Es dringt kaum Sonnenlicht ins Tal des Königsreiches, die Natur ist karg und trocken; die Menschen arbeiten hart bis an ihr Lebensende und doch fallen die Ernten viel zu mager aus. Eines Tages erhält Shuna von einem Fremden Getreidekörner. Der Pflanze wird nachgesagt, dass sie – einmal ausgesät – so üppig wächst, dass ein Volk nie mehr Hunger leiden muss. Das Problem dabei: Die Samen, die Shuna erhalten hat, sind tot. Um seinem Volk zu helfen, bricht er schließlich mit seinem Reittier – einem Jakkul – gen Westen auf, zum Ende der Welt, wo die vielversprechenden Pflanzen wachsen.
Auf Shunas Weg nach Westen erfahren wir, dass die Lage allerorts ähnlich ist. Es wachsen kaum Pflanzen – oder nur ungenießbare – und überall leiden die Menschen Hunger. In einigen Menschen holt dieser Überlebenskampf das Grausamste hervor: Kannibalismus, Sklaverei, Menschenopfer. Immer wieder haben mich diese Szenen an Cormac McCarthys „Die Straße“ denken lassen.
In einer Burgstadt gelingt es Shuna, zwei Mädchen aus der Gefangenschaft zu befreien: Die willensstarke, selbstbewusste Thea und ihre kleine, namenlos bleibende Schwester. Später werden diese beiden wiederum das Leben von Shuna und vielen anderen Menschen retten.
Trotz dieser unerbittlichen Welt, die Miyazaki uns in seinem Manga präsentiert, ist „Shunas Reise“ hoffnungsvoll und einfach schön. Hayao Miyazaki erzählt uns die Geschichte, die auf einem Märchen aus Tibet basiert, in großen Aquarellbildern in erdigen, gedeckten Farben, die viel Ruhe ausstrahlen. Selbst in ereignisreichen, actiongeladenen Szenen oder anderweitig gefährlichen Momenten wirkt die Geschichte nie gehetzt. Dass der Manga mit nur wenig Text auskommt – der vor allem erzählender Natur ist und kaum Dialog enthält – lässt die Bilder umso stärker wirken.
Optisch wie inhaltlich weist „Shunas Reise“ zudem etliche Parallelen zu „Prinzessin Mononoke“ und „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ auf, was auch daran liegt, dass alle drei Werke zu einer ähnlichen Zeit bzw. sogar zeitgleich entstanden. Trotzdem ist „Shunas Reise“ etwas ganz Eigenständiges, nicht zuletzt, weil es eine sehr kurze Geschichte ist, die etliche Motive und Themen aufgreift, aber auf das Wesentliche reduziert ist. Wir Lesenden erfahren dadurch wenig über die Welt in „Shunas Reise“ und vieles bleibt unserer Fantasie überlassen – ich persönlich fand das wohltuend; Lesende, die immer eine komplett ausgefeilte Welt wünschen, wird das aber vermutlich stören.
Zudem führt diese starke Reduktion zu Situationen, die nicht schlüssig scheinen: Als Shuna in der Wüste von einer Gruppe Menschen überfallen wird, muss er nur sein Gewehr in die Hand nehmen und sie treten sofort den Rückzug an – obwohl auch sie bewaffnet und zahlenmäßig überlegen sind. Ein anderes Beispiel findet sich bei Shunas Aufenthalt in der Burgstadt. In einem Panel heißt es „änderte der Händler sein Benehmen plötzlich“ – es ist jedoch das erste Panel, in dem der Händler auftaucht und auch aus dem Text ging zuvor nichts hervor, dass auf einen Händler und dessen Umgang mit Shuna hinwies. Solche Szenen lassen den Manga mitunter etwas fragmentarisch wirken, sind aber für den grundsätzlichen Verlauf der Geschichte zum Glück nicht von größerer Relevanz.
Fazit:
Hayao Miyazaki hat mit „Shunas Reise“ bewiesen, dass eine Geschichte in einer trostlosen Welt spielen und trotzdem hoffnungsvoll und schön sein kann. Der Manga enthält dabei auf so wenig Raum so viele Miyazaki-typische Motive und Elemente, dass er quasi „Miyazakis Gesamtwerk in a nutshell“ ist.
Hayao Miyazaki: „Shunas Reise“, aus dem Japanischen übersetzt von Nora Bierich, Reprodukt 2023, ISBN: 978-3-95640-395-8
Oh, liebe Kathrin, das ging ja völlig an mir vorbei! Danke für Deine Vorstellung!
Zur Zeit bringe ich meinem Mann die Filme aus dem Studio Gibli näher, die er alle noch nicht kannte. Und er ist, wie soll es anders sein, begeistert!
„Totoro“ hat den Anfang gemacht. Und ich freue mich auf einen Miyazakischen Filmherbst mit meinem Mann.
Ganz herzliche Grüße an Dich!