Inhaltswarnungen / Content Notes
Der Roman enthält:
- Antiziganismus
- Sexismus
- Tierquälerei und -mord
Mit „Straumēni“ hat Edvarts Virzas einen Roman geschrieben, der sich mit nichts vergleichen lässt, das ich je gelesen habe. Denn anders als in jeder anderen Geschichte wird hier nie aus der Perspektive von Menschen oder anderen Lebewesen erzählt. Menschen, Tiere und Pflanzen sind hier nur Nebenfiguren bzw. Teil des großen Ganzen. Die meisten Menschen des Romans bleiben namenlos oder tauchen nur kurz auf. Der eigentliche Protagonist in „Straumēni“ ist der gleichnamige Hof im Lettland Mitte des 19. Jahrhunderts. Alles, was wir sehen und erleben, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Hof.
Auch einen klassischen Handlungsbogen, Spannung oder große dramaturgische Ereignisse finden wir in Edvarts Virzas Buch nicht. Was wir stattdessen auf diesen rund 300 Seiten erleben, ist der Alltag auf dem Hof im Verlauf der Jahreszeiten. Wir verfolgen, wie der Schnee im Frühling für Hochwasser sorgt und danach neues Leben erwacht; wir begleiten die Menschen von Straumēni bei ihren Arbeiten auf und um den Hof, feiern mit ihnen große Feste, bis nach dem Herbst der Winter die Stille und Dunkelheit zurückbringt. All das wirkt entschleunigend und erdend. Es lenkt den Blick auf Wesentliches und auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
Die Menschen von Straumēni leben in enger Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen, Wetter und Jahreszeiten. Ihr ganzes Sein und Handeln ist an dem orientiert, was ihnen die kleine Welt um sie herum geben oder auch nehmen kann. Dabei findet das Leben auf und um Straumēni in einer Art Blase statt: Die Menschen von Straumēni leben dicht und ohne wirkliche Privatsphäre miteinander auf dem Hof, haben aber kaum Kontakt zu Menschen außerhalb von Straumēni. Auf dem Hof sind daher alle und alles voneinander abhängig, während die Welt außerhalb des Hofes weit weg scheint und Straumēni weitgehend isoliert und unabhängig von dieser Außenwelt ist. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die ein oder andere Person ihre Zeit lieber mit Tieren und in der Natur verbringt als mit Menschen.
Gleichzeitig führen diese Isolation und die nahezu pausenlose harte Arbeit dazu, dass es zu Disbalancen kommt. Prallen Gruppen verschiedener Höfe aufeinander, fallen ihnen nach erster Neugier vor allem die Unterschiede und Eigenarten auf. Durch den Mangel an freier Zeit und Erholung fehlen Ausgleich und Ventile, was dazu führt, dass festliche Stimmungen an Feiertagen und besonderen Anlässen jedes Mal in Trinkexzesse, Streit und Prügeleien eskalieren – Ereignisse, von denen die Menschen auf Straumēni in Ermangelung anderer Themen noch Monate oder gar Jahre später erzählen.
Angesichts ihrer Lebenswelt spiegeln sich Relevanz und Wert körperlicher Arbeit und der Respekt vor der Natur auch in den Werten und dem Glauben der Menschen wider. Harte Arbeit wird als etwas von Gott Definiertes und als Teil von Gottes Ordnung betrachtet. So bekommt körperliche Arbeit in Edvarts Virzas Roman etwas Ritualisiertes und Heiliges. Dabei trifft Christentum immer wieder auf lettische Folklore. Der christliche Monotheismus schließt für die Menschen auf Straumēni den Glauben an lettische Gottheiten, Naturgeister und dergleichen nicht aus. Beides existiert nebeneinander und ist von gleichem Stellenwert. Für die Menschen ist dieser Glauben neben der Landwirtschaft das Wichtigste. So finden sich immer wieder religiöse Vergleiche und Verweise auf Gott. Für meinen Geschmack waren es irgendwann zu viele und vor allem zu aufdringliche Verbindungen zum Göttlichen – auch weil diese Stellen häufig suggerierten, dass das harte landwirtschaftliche Leben das einzig Wahre und Richtige ist.
So sehr ich das Nature Writing, den ungewöhnlichen Ansatz des Romans und Virzas Schreibstil mochte, so kritisch sehe ich andere Aspekte des Buches. Neben dem erwähnten Weltbild, dass der Sinn des Lebens allein in körperlicher Arbeit und im Glauben besteht, stören mich auch die sehr bildliche, brutale Quälerei und Tötung von Tieren sowie diverse Menschenbilder. So werden in Edvarts Virzas „Straumēni“ etliche antiziganistische Vorurteile wiederholt und Virza fällt tatsächlich die Aussage, dass „der Herrgott selbst“ den Roma bestimmt habe, „vom Stehlen zu leben“ (S. 184). Angesichts dessen, dass „Straumēni“ in Lettland zur Schullektüre gehört, frage ich mich, wie dort mit solchen Passagen umgegangen und der Antiziganismus im Unterricht aufgearbeitet wird.
Daneben strotzt Virzas Roman vor allem in der zweiten Hälfte von Sexismus. Männer sind grundsätzlich immer verschwitzt, haben muskulöse und braun gebrannte Oberkörper; Frauen werden – selbst im Rahmen der landwirtschaftlichen Arbeit – stark sexualisiert dargestellt. Vor allem Magd Līna wird häufig auf ihren Körper reduziert: auf ihre glühenden Wangen, auf ihren an eine Blume erinnernden Mund und ihre Brüste. Überhaupt ist Edvarts Virza extrem auf weibliche Brüste fixiert und Passagen wie diese machten mich wiederholt sprachlos und wütend:
„Genau dort hoben und senkten sich auch ihre Brüste und drohten währenddessen ihre Kleidung von innen zu sprengen.“ (S. 165)
„Die Verkäuferinnen trugen weiße Schürzen und hatten so große Brüste, dass sie nicht mehr erkennen konnten, was sich vor ihnen zutrug.“ (S. 231)
„Sie hatten ihre Jacken von oben bis unten so fest zugeschnürt, dass ihre Brüste, die es sonst gewohnt waren, sich frei zu bewegen, jetzt im Gefängnis der Kleider zu ersticken drohten.“ (S. 237)
All das hat mir das Lesen von „Straumēni“ irgendwann zu sehr verleidet und dazu geführt, dass ein anfangs begeisternder Roman für mich zur Problemlektüre wurde.
Fazit:
Edvarts Virza erzählt in „Straumēni“ anhand eines einzigartigen Ansatzes vom lettischen Landleben und der Symbiose zwischen Mensch und Natur. Antiziganismus und Sexismus sind in Virzas Buch jedoch an der Tagesordnung und ruinieren damit einen Roman, der andernfalls eine besondere Lektüreempfehlung hätte werden können.
Edvarts Virza: „Straumēni“, aus dem Lettischen übersetzt von Berthold Forssman, Guggolz 2020, ISBN: 978-3-945370-25-4
Geplauder