Häufiger schlich ich um Yuhki Kamatanis „Wer bist du zur blauen Stunde?“ herum. Gekauft habe ich den Manga dann aber nie, weil ich fürchtete, dass er sich in die vielen Boys-Love-Serien einreiht, die nur die gängigen romantischen oder erotischen Muster und/oder Klischees wiedergeben. (Mehr über die Darstellung und Repräsentanz queerer Menschen in Mangas könnt ihr bei Miss Booleana nachlesen.) Steffis Rezension der Reihe hat mich dann eines besseren belehrt und damit ich mich direkt selbst von der Qualität des Mangas überzeugen kann, hat mich Steffi sogar zu Weihnachten mit dem ersten Band überrascht. (Lieben Dank noch einmal dafür!)

Ich wurde nicht enttäuscht.

In „Wer bist du zur blauen Stunde?“ begegnen wir zu Beginn dem Schüler Tasuku, dessen Freund und Mitschüler einen Boys-Love-Anime in Tasukus Browserverlauf findet – und ihn direkt damit aufzieht, schwul zu sein. Für Tasuku, der weiß, dass er Jungs liebt, sich das aber selbst noch nicht eingestehen kann, ist diese Konfrontation mit seiner sexuellen Orientierung zu viel. Er findet sich anders, falsch, verachtet sich und seine Sexualität und sieht nach dem Quasi-Outing keinen anderen Ausweg als Suizid. Zugegeben, da ist Tasuku sehr voreilig und überdramatisch, weshalb meine anfängliche Skepsis dem Manga gegenüber noch einmal zurückkehrte. Ja, in Japan ist Queerness längst nicht so akzeptiert, wie es die Masse und der Erfolg von Boys-Love-Mangas vermuten lassen, und da Tasuku erst vor wenigen Monaten nach Onomichi gezogen und deshalb noch recht neu in der Klasse ist, sind seine Sorgen, in seinem neuen Wohnort direkt ausgegrenzt zu werden, nicht unberechtigt. Aber dass er nur wenige Stunden Minuten nach dem Fund des Boys-Love-Animes an Selbstmord denkt, wirkt dann doch sehr übertrieben – insbesondere da sich ein paar Mitschülerinnen sofort für Tasuku einsetzen, sich gegen Diskriminierung aussprechen und der Mehrheit der Mitschüler*innen anscheinend ziemlich egal ist, was auf Tasukus Handy gefunden wurde und ob er nun schwul ist oder nicht.

Tasuku jedenfalls sieht in dem Fund des Anime den Startschuss für Mobbing und Ausgrenzung, ohne jede Hoffnung, er selbst sein zu können und akzeptiert zu werden. Als er kurz davor ist, vom Gebäude zu springen, entdeckt er eine Frau, die genau das tut. Panisch sucht er sie und ruft um Hilfe – und stellt fest, dass die Frau noch lebt. Nicht nur das: Die geheimnisvolle Frau, die sich „Frau Jemand“ nennt, macht ihm ein ungewöhnliches Gesprächsangebot. Er könne ihr alles erzählen – sie höre auch nicht zu.

In den folgenden Tagen sucht Tasuku Frau Jemand immer wieder auf und besucht „Die Lounge“ – ein Haus, das allen Menschen offensteht, die sich unverstanden oder ausgegrenzt fühlen, und in dem niemand verurteilt wird. In der Lounge trifft Tasuku auf andere queere Menschen, erfährt ihre Geschichten und findet so nach und nach zu sich selbst und beginnt, sich selbst und seine Liebe für einen älteren Mitschüler zu akzeptieren.

In Frau Jemands Lounge sammeln sich Figuren in unterschiedlichen Lebensphasen und mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Da ist zum Beispiel Haruko, die sich gegenüber ihren Eltern bereits geoutet und einen erfolgreichen Job gekündigt hat, weil ihre Kolleg*innen nur das heteronormative Weltbild mit Ehe und Kind anerkennen. Ihre Partnerin Saki dagegen hat noch immer Angst vor Ablehnung und sich deshalb in ihrem Familien- und Bekanntenkreis nicht geoutet. Das führt auch zu Konflikten mit Haruko, die davon träumt, Saki eines Tages zu heiraten.

So verschieden sie leben und lieben – sie alle zeigen Tasuku, dass er mit seinen Gefühlen nicht allein ist und dass nichts an ihnen falsch ist.

Yuhki Kamatani, selbst nicht-binär, gelingt es, das queere Leben in Japan abseits der Boys-Love-Stereotype zu adressieren. Ängste und Hürden werden ebenso offen angesprochen wie das Daten und die queere Community. In „Wer bist du zur blauen Stunde?“ geht es nicht um eine Lovestory oder Erotik, sondern um Identität, darum, du selbst sein zu können, zu l(i)eben und l(i)eben zu lassen.

Dazu braucht der Manga nicht mal viele Dialoge. Die wichtigsten Sachen erschließen sich zwischen den Zeilen. Sie finden sich in Blicken, in der Gestik, in Handlungen und vor allem in Metaphern, wenn beispielsweise Tasukus Herz zersplittert, als er sich seine Gefühle für seinen Mitschüler eingesteht, oder Haruko sich mit dem Abriss einer Hauswand auch aus der heteronormativen Erwartungshaltung ihrer Familie befreit.

Fazit:

Yuhki Kamatanis „Wer bist du zur blauen Stunde?“ ist ein authentischer, feinfühliger und metaphorisch starker Manga über Identität, Sexualität und Queersein in Japan, wie ich ihn bis dahin vergeblich gesucht habe.

Yuhki Kamatani: „Wer bist du zur blauen Stunde?“ (Band 1), aus dem Japanischen übersetzt von Alexandra Klepper, Carlsen Manga! 2019, ISBN: 978-3-551-75896-5