1920 verfasste J. R. R. Tolkien für seinen damals vierjährigen Sohn John einen Brief im Namen des Weihnachtsmannes, um ihm zu zeigen, wie der Weihnachtsmann aussieht und wo er lebt. Daraus entwickelte sich eine Familientradition, die bis 1943 anhielt, als Tolkiens ältestes Kind, Priscilla, 14 Jahre alt war. Jedes Jahr im Dezember – manchmal auch schon im November – erhielten die vier Tolkienkinder Briefe vom Weihnachtsmann und seinem Gehilfen, dem Polarbären. Manche Briefe umfassten nur wenige Sätze, andere mehrere Seiten. Aber egal, wie umfangreich sie waren: Tolkien gab sich jedes Mal sehr viel Mühe in der visuellen und inhaltlichen Gestaltung: Er spielte mit Schriftarten, legte aufwändige Zeichnungen bei, band Kommentare des Polarbären ein, der sich vom Weihnachtsmann so manches Mal in zu schlechtem Licht dargestellt fand, und überlegte sich jedes Jahr neue Anekdoten, die von der Arbeit des Weihnachtsmannes und dem Alltag am Nordpol handelten.

Natürlich erkennen und durchschauen erwachsene Lesende schnell die typischen Muster. Dass der Polarbär als Sidekick des Weihnachtsmanns in fast jedem Jahr für Geschenkechaos sorgt, ist ein zentrales Motiv, das für meinen Geschmack überreizt wurde. Jüngere Kinder dagegen lieben dergleichen und warten darauf, was wohl dieses Mal angestellt wird.

Neben all den unterhaltsamen Geschichten baute Tolkien aber auch immer wieder Verweise auf reale, ernste Ereignisse ein. So begründet der Weihnachtsmann Jahre mit wenigen Geschenken mit der wachsenden Armut und später mit dem 2. Weltkrieg. Er erzählt den Geschwistern von Kindern, die alles verloren haben, von Familien auf der Flucht. Mit den Goblins, die 1933 den Weihnachtsmann und Polarbären angreifen und sich später über die ganze Welt verbreiten, hat Tolkien schießlich auch eine fiktionale Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unternommen. Dabei gelang es ihm stets, Ängste, Sorgen und Leid einzufangen, aber die Briefe gleichzeitig in einem positiven, hoffnungsvollen und unterhaltsamen Grundton zu formulieren.

All diese Briefe aus 23 Jahren hat Baillie Tolkien, Ehefrau von Tolkiens Sohn Christopher, gebündelt und für Tolkien-Fans, Familien und Weihnachtsbegeisterte herausgegeben. Meine Ausgabe, die bei HarperCollins anlässlich des 100. Jubiläums des ersten Briefes erschien, ist im Sonderformat gebunden: fast 30cm hoch und ca. 1kg schwer. Sie enthält alle Briefe nicht nur in säuberlich abgetippter Form, sondern jeweils auch ein Abbild des Originalbriefes sowie die zugehörigen Zeichnungen. Das macht die Sammlung zu einem optisch schönen und zugleich dokumentarischen Werk, wenngleich ich mir an mancher Stelle die Briefe der Kinder an den Weihnachtsmann oder ein paar Fußnoten gewünscht habe, um bestimmte Sätze des Weihnachtsmannes in einen Kontext setzen zu können. Eine leichte, gemütliche und schnell gelesene Weihnachtslektüre ist „Letters from Father Christmas“ aber allemal – und eine schöne Inspiration, mit den eigenen Kindern eine ähnliche Tradition zu begründen.

J. R. R. Tolkien: „Letters from Father Christmas (Centenary Edition)“, herausgegeben von Baillie Tolkien, HarperCollins 2020, ISBN: 978-0-00-840684-4