Nico von „Im Buchwinkel“ hat den #ComicMärz ausgerufen, um Comics und Mangas raus aus der Nische zu holen und die Vielfalt dieser Kunst sichtbar zu machen. Zusammen mit anderen Blogger*innen veröffentlicht er diesen Monat Rezensionen, Interviews, Blicke hinter die Kulissen, Empfehlungslisten und vieles mehr. Eine Übersicht über die Mitwirkenden und bisherige Beiträge findet ihr bei Nico.

Auch ich möchte mich an diesem Themenmonat beteiligen und nutze ihn und mein jüngstes Blogjubiläum, um euch zehn Comics und Mangas vorzustellen, die mich in den zehn Jahres meines Bloggens am meisten beeindruckt haben. Manche der Titel sind Einzelbände, andere umfassen mehrere Teile; inhaltlich geht es von Unterhaltung für Kinder und Kindgebliebene bis hin zu dokumentarischen Titeln – und es zeigt, wie groß das Spektrum an Themen, Formaten, Genres und Zielgruppen ist! Zum Abschluss präsentiere ich euch noch drei Künstler, bei denen ich euch keinen Einzeltitel besonders empfehlen kann, sondern deren Gesamtwerk eure Aufmerksamkeit wert ist.

Die Reihenfolge, in der euch meine Favoriten präsentiere, stellt jedoch kein Ranking dar und ist vollkommen beliebig gewählt.

Kazuto Tatsuta: „Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima“

Mangas, das heißt Kulleraugen, anspruchslose Unterhaltung, Kitsch oder zu gewalthaltige Action? Wer das noch immer denkt, hat sich nie auch nur ansatzweise mit dieser Kunstform beschäftigt. Mangas sind so vielseitig wie jedes andere Medium auch. Einer meiner liebsten Titel, der das hervorragend deutlich macht, ist der dreibändige Manga „Reaktor 1F“. Unter dem Pseudonym Kazuto Tatsuta verarbeitet ein Mangaka und ehemaliger Aufräumarbeiter seine Erfahrungen in Fukushima. Nach der Nuklearkatastrophe im März 2011 meldete sich Tatsuta freiwillig für die Arbeit in dem zerstörten Atomkraftwerk. Wie die Rückbauarbeiten vonstattengehen, welche Fortschritte bei der Dekontamination gemacht werden und wie die Arbeitsbedingungen vor Ort sind, berichtet Tatsuta anschaulich und auch für Laien verständlich. Der große Skandal bleibt aus. Stattdessen zeichnet der Mangaka ein differenziertes Bild von der Situation vor Ort und schafft es, das Thema zu entemotionalisieren.

Emmanuel Lepage: „Ein Frühling in Tschernobyl“

Die Nachwirkungen eines Reaktorunglücks stehen auch im Fokus der Comic-Reportage „Ein Frühling in Tschernobyl“. Im Jahr 2008 reist Emmanuel Lepage zusammen mit befreundeten Künstler*innen in die Ukraine. Sie suchen eine Auseinandersetzung mit Tschernobyl abseits von Wissenschaft, Politik und Fakten, wollen dieser Geisterstadt und den wenigen noch dort lebenden Menschen ein Gesicht geben. Lepage ist dabei immer wieder überrascht, wie sich die Region ihm präsentiert: In der noch immer kontaminierten Zone leben Menschen, die so sehr mit der Region verwurzelt sind, dass sie das gesundheitliche Risiko auf sich nehmen, während Flora und Fauna sich das Gebiet zunehmend zurückerobern und fast schon idyllische Landschaften entstehen lassen.

Zidrou und Arno Monin: „Die Adoption“

Der zweibändige Comic „Die Adoption“ hat sich innerhalb der Comicszene schnell zu einem Highlight entwickelt, das man ausnahmslos allen Leser*innen empfehlen kann. Zidrou erzählt darin die Geschichte des kleinen peruanischen Mädchens Qinaya, das von einem französischen Ehepaar adoptiert wird und das Herz des eigenbrötlerischen und skeptischen Adoptivopas Gabriel erweicht. Die Geschichte, die – so viel seit verraten – kein klassisches Happy End mit sich bringt, hat Arno Monin in warme Farben gehüllt und die Mimik und Gestik seiner Figuren ist so ausdrucksstark, dass es oftmals keiner Worte bedarf. Die beiden Bände sind mit ihren jeweils 72 Seiten schnell gelesen, wirken dafür aber umso länger nach, bringen zum Lachen, rühren zu Tränen und hinterlassen im Leser*innenherz ein Gefühl ganz großer Liebe.

Luke Pearson: „Hilda“

Muss ich euch Hilda eigentlich noch vorstellen? Spätestens seit der Netflix-Adaption kennt jeder die außergewöhnliche Abenteurerin aus der Feder von Luke Pearson. Hilda ist eines dieser Mädchen, die ich gerne in meiner eigenen Kindheit gekannt hätte. Sie ist mutig, schlagfertig, klug, hat ein großes Herz – und ist umgeben von vielen faszinierenden Wesen wie Trollen, Elflingen und Woffel. Außerdem hat sie mit dem Hirschfuchs Hörnchen eines der liebenswertesten Haustiere aller Zeiten. Das all ihre magischen Abenteuer in satten Farben und vor großartigen Kulissen stattfinden, macht die Comics nur umso lesenswerter. Wer unter der aktuellen Kinderlektüre eine Heldin sucht, die ein wirkliches Vorbild ist, oder wer einfach nur gut erzählte Geschichten mit wundersamen Geschöpfen lesen möchte, greift bitte unbedingt zu Luke Pearsons Comics!

Matthias Picard: „Jim Curious“

In den bislang zwei Bänden um den Taucher Jim Curious entführt uns Matthias Picard zuerst in die Tiefen des Ozeans und anschließend in den Dschungel. Mit klassischer 3D-Brille gehen kleine und große Forscher*innen auf Reisen, die ihnen die Wunder unserer Welt zeigen. Zu entdecken gibt es Schiffswracks, versunkene Städte, Wale und Haie, ungewöhnliche Kreaturen der Tiefsee, urzeitlich anmutende Bäume, Sümpfe und vieles mehr. Dabei bedarf es keines einzigen Wortes und trotzdem kommt man aus dem Staunen nicht heraus und möchte am Ende direkt noch mal von vorn beginnen.

Tove Jansson: „Mumins – Die gesammelten Comic-Strips”

Die Mumins kennen wir alle als die niedlichen, nilpferdähnlichen Figuren aus Kinderfernsehen und -literatur. Die ursprünglichen Comic-Strips, die Tove Jansson einst in Zeitungen veröffentlichte, sind aber so gar nicht kindgerecht. Natürlich sind sie weiterhin drollig anzusehen und die Figuren haben allesamt etwas kindliches. Aber thematisch richten sich die Strips an das Erwachsenenpublikum. Da gibt es Eifersüchteleien, Untreue, Ehekrisen, Feindschaften, Streitigkeiten, schnellen Ruhm, Gesellschaftskritik, Seitenhiebe auf Rollenbilder und ökonomische Prinzipien. Nicht alle Figuren wird man während dieser kleinen Episoden mögen, aber am Ende sind die Geschichten immer äußerst unterhaltsam und eine großartige Satire unserer kleinen wie großen menschlichen Fehlbarkeiten.

Roxanne Moreil und Cyril Pedrosa: „Das Goldene Zeitalter“

Ein Hoch auf den Gratis Comic Tag, denn ohne den wäre mir dieses Meisterwerk wohl entgangen! „Das Goldene Zeitalter“ von Roxanne Moreil und Cyril Pedrosa war für mich das Highlight und der Geheimtipp des GCT 2019. Dieser Comic hat mich bereits in seiner Leseprobe total geflasht und nachdem ich den immerhin 232 Seiten umfassenden ersten Band in seiner Gänze kennenlernte, kann ich sagen: Dieser Comic ist mit das Ungewöhnlichste, was ich in den letzten Jahren auf dem Comicmarkt gesehen habe. In einem mittelalterlichen Setting werden Intrigen und Aufstände inszeniert und es geht hochpolitisch zu. Der Comic widmet sich zeitlosen Fragen zu Recht und Gerechtigkeit, Reichtum und Verteilung und einem vielleicht utopischen Ideal einer Welt, in der alle immer füreinander da sind, fair geteilt wird und Gesellschaft gleichbedeutend ist mit Gemeinschaft. Visuell beeindruckt der Comic mit einem ungewöhnlichen Zeichenstil, der regelmäßig ins fast schon Psychedelische abdriftet und zu explodieren scheint. Die Bilder sind voller Dynamik und manchmal so komplex, dass sie an Wimmelbilder erinnern. Das alles wird ergänzt um gewagte, aber stimmungsvolle und unvergleichliche Farbkombinationen. „Das Goldene Zeitalter“ ist damit sehr speziell und nichts für Comic-Einsteiger*innen, aber definitiv ein Muss für alle Comic-Erfahrenen.

Craig Thompson: „Habibi“

Craig Thompsons epochales, fast 700 Seiten starkes „Habibi“ ist mittlerweile so etwas wie ein Klassiker auf dem Comicmarkt. Ausschließlich in schwarz-weiß gehaltenen Bildern erzählt Thompson darin von den beiden Sklavenkindern Dodola und Zam, verknüpft ihre Leben mit der Geschichte des Christentums und des Islams und zeigt dabei immer wieder auf, wie ähnlich sich diese beiden Religionen oftmals sind und welche gemeinsamen Ursprünge sie haben. Das ist eine Menge Stoff, fordert höchste Aufmerksamkeit der Lesenden und hin und wieder muss man den Comic zur Seite legen, um all das Gelesene und Gesehene zu verarbeiten. Anspruchsvoll, visuell meisterlich und höchst beeindruckend!

Naoki Urasawa: „20th Century Boys“

Wer hier regelmäßiger vorbeischaut, hat schon längst mitbekommen, wie sehr ich Naoki Urasawas „20th Century Boys“ verfallen bin. Zu verdanken habe ich dieses Manga-Highlight meiner lieben Freundin und Bloggerkollegin Miss Booleana, weshalb diese Empfehlung nicht nur von mir, sondern indirekt auch von ihr an euch geht. Je mehr Bände lese, desto schwerer fällt es mir, die Inhalte von „20th Century Boys“ für euch an dieser Stelle zu schildern. Ich kenne keinen Manga oder Comic, der dermaßen komplex ist, so viele Figuren und Handlungsstränge hat, ohne sich zu verzetteln. Die „20th Century Boys“ bieten dystopische Action und beste Unterhaltung, geben uns besondere Familien- und Freundschaftsbande, drehen sich um Intrigen, Verschwörungstheorien, spirituelle und politische Ideologien und zeigen, dass nicht immer leicht erkennbar ist, wer die wirklich Guten und wer die Bösen sind.

Neil Gaiman, Andy Kubert et al.: „Batman: Was wurde aus dem Dunklen Ritter? Und weitere Geschichten“

Zum Abschluss dieser Kollektion darf natürlich auch ein klassischer Superheldencomic nicht fehlen. Tatsächlich konnte ich mich für all die Superhelden von Marvel und DC nie recht begeistern. Die einzige Ausnahme: Batman. Multitalent Neil Gaiman hat um den Dunklen Ritter mehrere Geschichten gesponnen, von denen die titelgebende Story der Kollektion eindeutig die beste und cleverste ist. Gekonnt arbeitet Gaiman mit der Ambivalenz des Bruce Wayne alias Batman, aber auch mit der seiner Gefährten und Gegenspieler*innen, und spielt mit dem Verstädnis von Wahrheit und Wirklichkeit. Die Comics sind dabei durchweg auch für Einsteiger*innen oder Gelegenheitsleser*innen geeignet, da Vorwissen zwar von Vorteil, aber nicht zwingend für das Verständnis erforderlich ist.

Honourable Mentions: 3 Künstler, deren Gesamtwerk ihr entdecken solltet

Flix

Der Berliner Künstler gehört imho zu den vielseitigsten Comiczeichnern und Illustratoren, die es derzeit in Deutschland gibt. Ob eine illustrierte Ausgabe von Charles Dickens Weihnachtsgeschichte, Geschichten über die Wende, humorvolle Neuinterpretationen von Klassikern wie „Faust“, den ersten Spirou-Comic aus deutscher Feder, die ruhmreichen Taten des Superhelden Coffeeman oder Comicstrips über einen alleinerziehenden Vater, dessen Tochter und ihren Waschbären – Flix‘ Repertoire ist riesig und bunt genug, um für wirklich jeden Geschmack etwas bereitzuhalten. Darüber hinaus ist der Künstler auch noch extrem sympathisch und sehr politisch. Darum: Folgt ihm in den Sozialen Netzwerken und wenn ihr die Gelegenheit habt, eine seiner Lesungen zu besuchen, tut es!

Simon Schwartz

Simon Schwartz ist ein Künstler, den ich für seine ernsten Themen und seinen einzigartigen Zeichenstil schätze. Was seine Comics aber vor allem auszeichnet, sind ihre Ursprünge: Immer wieder widmet sich Simon Schwartz außergewöhnlichen Biografien und Begebenheiten. So erzählt er in „Packeis“ die Geschichte von Matthew Henson, der als erster Mensch den Nordpol erreichte, aber den Ruhm dafür an Robert Peary abtreten musste. In „Ikon“ verarbeitet er die absurde Geschichte einer Frau, die sich jahrelang als die Zarentochter Anastasia ausgab. Und in dem kleinen Büchlein „Vita Obscura“ könnt ihr gleich mehrere weniger bekannte, teils skurrile Figuren und historische Ereignisse kennenlernen und bspw. erfahren, wer warum Einsteins Gehirn stahl.

Jiro Taniguchi

Das Lebenswerk des 2017 verstorbenen Mangaka Jiro Taniguchi ist das beste Beispiel dafür, wie facettenreich Mangas sind. Im Laufe seiner Karriere schuf Taniguchi-Sensei beispielsweise Actionstories, Science Fiction und das Bergsteigerepos „Gipfel der Götter“. Er adaptierte Kurzgeschichten und Romane wie „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“, widmete sich dem Leben und Schaffen außergewöhnlicher Japaner*innen (u.a. in „Ihr Name war Tomoji“ und „Der Kartograph“) und war ein Meister der leisten Töne, mit denen er den Zauber des Alltags und die Wunder der Natur einfing. Für Taniguchi war die frankobelgische Comicszene stets eine große Inspiration und auf dem internationalen Markt – insbesondere in Europa – fand der Mangaka weit mehr Anerkennung als in seiner japanischen Heimat. Nicht selten wird sein Stil als „westlich“ beschrieben, was seine Werke aber vor allem für Manga-Neulinge leicht zugänglich macht.