In diesem Monat ist Phantásienreisen acht Jahre alt geworden. In Verbindung mit der bevorstehenden Leipziger Buchmesse und Mareikes Beitrag über die Rezeption von Büchern in unterschiedlichen Lebensabschnitten stellte sich mir die Frage, wann für mich ein Buch nicht einfach nur ein gutes Buch ist, sondern ein Begleiter über mein ganzes (Lese-)Leben hinweg.
Jedes Jahr lesen wir Geschichten, die uns berühren, erschüttern, zum Lachen oder Weinen bringen und die wir als großartig beurteilen. Doch nur wenige Bücher vermögen es, sich so in unserem Leserherz festzusetzen, dass wir auch nach Jahren die gleiche Begeisterung empfinden und die Geschichte am liebsten wieder und wieder lesen würden (und das mitunter auch tun).
Für mich zählen unter anderem „Krieg und Frieden“, „Les Misérables“, „Wicked“, „20.000 Meilen unter dem Meer“ und „Die unendliche Geschichte“ zu diesen besonderen Lebensbegleitern. Sie alle sind Bücher, an die ich auch im Alltag häufig denken muss, deren Szenen sich wie ein Kinofilm immer wieder vor meinem geistigen Auge abspielen und bei denen ich auch Jahre nach der Lektüre noch immer weiß, wie ich mich beim Lesen gefühlt habe. Doch warum ist das so? Was haben diese Bücher gemeinsam, dass sie trotz ihrer zum Teil großen inhaltlichen Unterschiede eine solche Bedeutung für mich gewonnen haben?
1. Underdogs, Außenseiter, Anti-Helden
Perfekt ist langweilig – und unrealistisch. Ich suche Charaktere mit Makeln; Figuren, die für ihre Träume und Ziele kämpfen müssen, die uns als Lesende daran erinnern, dass man nichts und niemanden im Leben als selbstverständlich sehen sollte, dass Irren und Scheitern menschlich sind und daher nicht als negativ empfunden werden sollten, sondern als Teil der Weiterentwicklung von Individuum und Gesellschaft.
Ob Außenseiter Bastian in „Der unendlichen Geschichte“, Ex-Häftling Jean Valjean und die täglich ums Überleben kämpfende Éponine in „Les Misérables“, der verbitterte Kapitän Nemo in „20.000 Meilen unter dem Meer“, die zu Unrecht zum Feindbild des Landes ernannte Elphaba in „Wicked“ oder der für seine anfangs plumpe und naive Art belächelte Pierre in „Krieg und Frieden“ – keiner von ihnen ist ein klassischer Held. Sie alle haben ihre Fehler und wurden von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Genau deshalb zeigen sie uns Lesenden, dass die Dinge nicht immer sind, wie sie scheinen, dass Aussagen oder Taten, die verstören, nicht aus reiner Bosheit oder Unwissenheit entstehen, sondern das Ergebnis von gemachten Erfahrungen und situationsbedingten Umständen sind. Die Underdogs, Außenseiter und Anti-Helden der Romane sensibilisieren uns für die Menschen um uns herum und da ich ihre weniger Glück verheißenden Geschichten kenne, wünsche ich ihnen umso mehr Gutes und leide mehr mit ihnen, als ich es mit Charakteren könnte, die bislang relativ sorglos durchs Leben gekommen sind.
2. Generationsübergreifend
Sowohl in den Klassikern „Krieg und Frieden“ und „Les Misérables“ als auch in der düsteren Oz-Version „Wicked“ spannt sich die Geschichte über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg. Wir begleiten Charaktere von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter. Ich nehme an nahezu ihrem gesamten Leben teil, was mich als Leserin eine noch stärkere Bindung zu ihnen aufbauen lässt. Sie werden „realer“, Teil meiner fiktiven Familie und das Abschiednehmen nach der letzten Buchseite fällt schwer. Das bringt mich dazu, auch lange nach der Lektüre in den gemeinsamen Erinnerungen zu schwelgen und der lieb gewonnenen Figuren zu gedenken.
Zusätzlich befinden sich in diesen drei Herzensbüchern von Anfang an zentrale Charaktere in unterschiedlichen Altersstufen: Personen in fortgeschrittenem Alter haben für die Handlung ebenso wichtige Rollen wie die Teenager oder Mittzwanziger. Das bietet viel Identifikationspotenzial für Lesende unterschiedlicher Altersgruppen; jeder kann eine Figur finden, die sich in einem ähnlichen Lebensabschnitt befindet oder ähnliche Erfahrungen gemacht hat. So erreichen diese Bücher aber nicht nur Lesende unterschiedlichster Generationen, sondern sorgen auch dafür, dass ich bei Rereads in unterschiedlichen Etappen meines Lebens die Charaktere und ihre Handlungen aus anderen Augen betrachten kann.
3. Mensch und Gesellschaft
Ein für mich besonders wichtiger Aspekt meiner Herzensbücher ist ihre Vielschichtigkeit. Sie alle greifen gesellschaftliche Missstände auf, widmen sich dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, thematisieren Politik, Wirtschaft, Ethik und Religion. Damit sind sie ein Spiegel unserer Welt. Sie zeigen auf, womit nahezu alle Gesellschaften unabhängig von ihrer geografischen Lage oder ihrer Historie zu kämpfen haben. Und damit verraten sie am Ende auch immer sehr viel darüber, was uns Menschen ausmacht – im Positiven wie im Negativen.
Das alles tun diese Bücher auf eine so gut mit der Geschichte verwobene und intensive Art, dass es der eigentlichen Geschichte und den Charakteren noch mehr Tiefe und Authentizität verleiht und für eine inhaltliche Dichte sorgt, bei der garantiert ist, dass ich auch beim zehnten Reread noch Neues in ihnen finden würde.
4. Masse = Klasse?
Natürlich sind dicke Bücher nicht automatisch besser – manche Kurzgeschichten oder Novellen haben mir als Leserin mehr zu erzählen als ein 500-seitiger Schmöker. Doch die Bücher, die mich am meisten prägten oder beeindruckten, sind sehr seitenreich. Dass ich solch umfangreiche Bücher im Allgemeinen liebe, hat zwei Gründe:
- Auf vielen Seiten finden viele Themen Platz; Charaktere und Handlung bekommen Raum zur Entfaltung. Das ist auch notwendig, wenn die vorgenannten Punkte 2 und 3 abgedeckt werden sollen bzw. gehen die Punkte 2 und 3 fast automatisch mit einem hohen Seitenumfang einher.
- Viele Seiten bedeuten auch viel Lesezeit. Ein 1000-Seiter wie „Krieg und Frieden“ oder „Les Misérables“ begleitet mich über Monate hinweg. Damit prägt sich die Lektüre stark in mein Leserinnengedächtnis ein, meine Beziehung zu den Charakteren wird langfristig und die Geschichte ist ein derart zentraler Teil meines Leselebens geworden, dass sie zu einer geschätzten Erinnerung wird und noch lange in mir nachhallt.
5. Zeig mir, was/ wo ich nicht sein kann (oder will)
Alle genannten Titel haben außerdem gemeinsam, dass sie mir Orte und Lebensumstände nahebringen, die ich andernfalls nie kennenlernen könnte (und im Fall von Krieg oder Gefangenschaft hoffentlich nie kennenlernen werde). Sie zeigen auf, was Entbehrung, Verlust und Schmerz bedeuten, wie hart das Leben als von der Gesellschaft Verstoßener ist. Aber sie entführen mich auch in Welten, die mich staunen lassen: Wie sehr hat mich die Unterwasserwelt beeindruckt, durch die mich Kapitän Nemo navigierte; wie sehr ließ mich das kunterbunte und voller Überraschungen steckende Phantásien bei jedem Besuch strahlen. So ist die Lektüre dieser Bücher immer eine Art Entdeckungsreise, eine Beobachtung aus sicherer Entfernung und damit ein wichtiger Mehrwert des Lesens. Ich möchte nichts lesen, das mir aus meinem eigenen Alltag mehr als vertraut ist – ich suche Neues, Fremdes, Verstecktes.
Natürlich kommen zu all diesen Aspekten bei jedem Buch noch individuelle Dinge hinzu, die ich liebe und schätze. Auch sind oben genannte Punkte nicht automatisch ein Garant dafür, dass mich ein Buch nachhaltig beeindruckt. Doch sie sind wichtige Kriterien, die ich jeweils für sich allein stehend generell beim Lesen schätze und die in Kombination miteinander erheblich dazu beitragen, welchen nachhaltigen Eindruck eine Geschichte in mir hinterlässt. Am Ende spiegeln diese Punkte aber eigentlich nur das wider, was für mich das Leben an sich ausmacht: Vielfalt, Komplexität, Veränderung, Überraschungen, Zeit, Liebe, Leid, Menschlichkeit.
Wie sieht es bei euch aus? Wann wird eine Geschichte zu einem der wichtigsten Bücher eures Lebens und welche Bücher haben das bisher geschafft?
Ein interessanter Artikel! :) Welche Verfilmung von Les Misérables hat Dir denn als Film am besten gefallen? Das Musical mal ausgenommen kenne ich nur die aus dem Jahre 2000 mit Gérard Depardieu, aber die fand ich sehr sehenswert.
Bitte verzeih die späte Antwort! In den letzten Wochen war ich viel unterwegs und hab die Kommentare hier auf dem Blog ganz vergessen …
Ich muss gestehen, dass ich bisher nur die Neuverfilmung mit Hugh Jackman vollständig (und mehrfach) gesehen habe. Ansonsten hatte ich einmal die Verfilmung von 1998 mit Liam Neeson begonnen, die ich dann aber abbrach, weil sie mich nicht ganz so zu fesseln vermochte. Später habe ich durch Zufall im Fernsehen noch das letzte Drittel der Verfilmung gesehen und war ein wenig hin- und hergerissen: Claire Danes als Cosette empfand ich als etwas anstrengend bzw. hat Claire Danes die Cosette letztlich genauso interpretiert wie damals die Julia in „Romeo und Julia“, was mir einfach zu wenig war. Geoffrey Rush als Javert hat mir indes sehr gut gefallen.
Die Verfilmung mit Gérard Depardieu kenne ich leider nur vom Hören-Sagen, aber die soll ja wirklich sehr gut sein … Mal schauen, ob ich das bald einmal nachholen kann. :)
Hi Kathrin,
konkret festmachen will ich es an einem Wort: Überraschung! Ich will überrascht werden und auch gefordert, dann werden Bücher zu Herzensbüchern. Durch diese Kriterien im Gedächtnis bleibende Geschichten haben es leicht, in mein Herz zu kommen. Das können dann auch gerne kurze Bücher sein, wobei es die Wälzer, wie du schon schreibst, leuchtet haben durch ihre Länge, weil man da richtig eintauchen kann.
Ein richtiges Herzensbuch ist mir „Amerika-Plakate“ von Richard Lorenz geworden. Zwar erst einmal gelesen, aber ständig präsent und Leibrand, die Hauptfigur, lässt einem nicht mehr los. Aber auch „Schwarzer Frost“ von David Wonschewski ist eines dieser Bücher, die zwar schwere Kost sind, aber durch ihre Art, wie sie geschrieben sind, ans Herz wachsen. Wobei mir beim letztgenannten Buch auch die Hintergründe zum Autoren geholfen haben, diese Thematik besser zu verstehen.
Bei Klassikern, wie von dir abgesprochen, tue ich mich dagegen schwer. Mit Ausnahme von „Der Herr der Ringe“ konnte mich bisher keines der Akten Bücher überzeugen. Stop, stimmt nicht. Erich Kästner mit seinem Gesamtwerk darf nicht unterschlagen werden. Ihn nur als Kinderbuchautor zu sehen, ist eine grob fahrlässige Untertreibung.
Liebe Grüße
Marc
Hallo Marc,
wenn du sagst, dass der Überraschungsfaktor für dich sehr zum Leseerlebnis beiträgt, erklärt das für mich auch sofort, warum du den Dark Tower so liebst – hier ist ja nichts so, wie man es anfangs vermuten würde und wohin sich alles entwickelt, lässt sich nicht ahnen.
Deine Begeisterung für „Amerika-Plakate“ ist mir nur noch gut in Erinnerung geblieben. Leider habe ich es noch nicht geschafft, selbst einmal einen Blick ins Buch zu werfen – aber im Hinterkopf ist das Buch fest vermerkt.
Klassiker sind wohl immer etwas speziell – manche „hasst“ man vermutlich schon allein deshalb, weil man damit Schullektüre und endloses Interpretieren verbindet. Manches trifft auch einfach nicht den eigenen Geschmack. Ich habe mich zum Beispiel nie für Goethe begeistern können, für Schillers Werk dagegen schon. Aber außer Goethe und Schiller haben wir im Deutschunterricht auch kaum Klassiker gelesen. Das hat den Vorteil, dass ich jetzt vieles freiwillig und unvoreingenommen kennenlernen kann. Aber bei vielen Titeln frage ich mich manchmal, ob ich so offen und interessiert an die Lektüre herangegangen wäre, wenn ich sie im schulischen Kontext gelesen hätte. Schullektüre ist wichtig und kann für Weitblick sorgen, kann aber auch schnell die Freude am Lesen verderben.
Viele Grüße
Kathrin
Dann wünsche ich deinem Blog nachträglich alles Gute zum Geburtstag, er/es lebe hoch! :D
Dein Literaturgeschmack spricht sehr für dich – du traust dich an vieles ran, wovor ich manchmal lieber kusche. V.A. was das Thema „Masse“ betrifft. Von dicken Büchern, fühle ich mich manchmal erschlagen. Also zumindest wenn es 1000-Seiten-Wälzer sind. Gerade lese ich Olga, was ein recht kleines Format hat, aber so kurz und bündig aber prägnant geschrieben, dass ich auf 310 Seiten trotzdem das Gefühl habe, dass ich alle Charaktere kenne. Aber es stimmt schon: bei 1000 Seiten prägt man es sich ganz anders ein.
Dein Herz für Antihelden und Außenseiter teile ich – nichts ist langweiliger als ein Superman. Da muss man eigentlich keine Bücher drüber schreiben … in dem Sinne wünsche ich mir 8 x 8 weitere Jahre phantasienreisen ;)
Danke für die lieben Wünsche! Wenn ich meine oder andere Blog-Geburtstage erlebe, entstehen bei mir immer gegensätzliche Empfindungen: Auf der einen Seite „Was schon so lange? :-O“ und auf der anderen Seite das Gefühl, dass es den jeweiligen Blog doch gefühlt schon viel länger gibt. XD
Ich glaub, das mit Herantrauen ist immer eine Frage des Blickwinkels. Ich denke bei den Blick auf die Lektüren anderer auch oft: „Da würde ich mich nicht rantrauen, zu dem Buch fände ich doch bestimmt nie einen Zugang; jenes Buch würde mich doch bestimmt überfordern.“ Du liest ja genauso Titel, die ich bisher vor mir herschiebe, z. B. den Zauberberg. (Und der hatte auch Masse! ;) ). Das Wichtige ist ja am Ende nur, dass man sich generell hin und wieder mal aus der Komfortzone heraustraut und auch Titeln oder Genres eine Chance gibt, die man sonst vernachlässigt. Das muss nicht unbedingt das intellektuell Fordernde sein oder das Dicke, sondern vielleicht auch einfach eine andere Textgattung oder ein Genre, das vielleicht vorurteilsbehaftet ist. Und ich denke, in der Hinsicht sind wir beide sehr aufgeschlossen. :)
Auf der Messe musst du mir morgen unbedingt erzählen, wie dir „Olga“ gefällt! Ich schleiche seit Wochen um diesen Titel herum. Ich mochte „Der Vorleser“ damals sehr, ich habe aber immer die Sorge, dass ein neues Buch eines Autors, der mich zuvor so stark überzeugen konnte, mich vielleicht enttäuscht, weil die Erwartungen zu hoch sind. :-/
Ich glaube Bücher werden zu DEN besonderen Büchern, wenn es einem im richtigen Moment begegnet und es tatsächlich zu sehr viel Identifikation und einer anderen Sicht auf die eigene Lage kommt. So verbindet man mit dem Buch immer dieses eine bestimmte Lebensgefühl.
Stimmt, das ist ein Aspekt, den man gern vergisst. Ich glaube auch, dass der Zeitpunkt eine Rolle spielt, wann man ein Buch liest – allein schon durch die Erfahrungen, die man bis dahin selbst gemacht hat, oder auch durch den Lebensabschnitt, in dem man sich gerade befindet. Gibst du Büchern eine zweite Chance, wenn du das Gefühl hast, dass sie einfach nur zu einem ungünstigen Zeitpunkt in dein Leserleben getreten sind?