Etliche Jahre sind seit Ende des zweiten Parts ins Land gezogen. Nachdem Victor Hugo in den ersten zwei Teilen seines Jahrhundertromans noch sehr viel Zeit und Raum zur Schilderung der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie der Vorgeschichte von Jean Valjean aufwendete, fokussiert er sich im dritten Part sehr auf Zwischenmenschliches sowie auf Leben und Identitätsentwicklung von Marius. Wir erfahren, wie es kommt, dass Marius, der aus gutem Hause stammt, in ärmlichen Verhältnissen in Paris lebt, wie sich sein Bild über seinen Vater und den Rest seiner Familie wandelt, aber auch welche politischen Ansichten er vertritt und inwieweit diese sich ändern. Wir lernen die ABC Society um den charismatischen Anführer Enjolras kennen, der Marius ein wenig einschüchtert. Da Marius‘ Ansichten (noch) nicht ganz konform mit denen der ABC-Jungs sind, geht Marius zunächst auf Abstand und hält lediglich zu zwei Mitgliedern freundschaftlichen, nicht von politischen Themen definierten Kontakt. Von einer engen Freundschaft zwischen Marius und Enjolras, wie sie sich in Musical und Filmen findet, ist aktuell also nicht zu sprechen. Ich bin gespannt, wie sich dies weiter entwickeln wird … Ich persönlich liebe die Zeit mit den ABC-Jungs, da in ihren Gesprächen so viel Leidenschaft mitschwingt und ihre Überzeugung und Zuversicht ansteckend wirkt. Interessant fand ich auch die Herkunft des Namens ABC Society:
„The ostensible purpose of the ABC Society was the education of children, but its real purpose was the elevation of men. The letters ABC, as pronounced in French, make the word abaissé, that is to say, the under-dog, the people.“ (S. 555 f.)
Nachdem wir uns auf dieser politischen Ebene „ausgetobt“ haben, lenkt Victor Hugo unseren Blick wieder auf die angenehmen Dinge des Lebens. Wir beobachten, wie Marius erstmals auf Cosette trifft und sich in sie verliebt, ohne ihren Namen zu kennen oder mit ihr auch nur ein Wort austauschen zu können. Cosette scheint es ähnlich zu gehen und so kommunizieren die beiden über Monate hinweg ausschließlich über unschuldige Blicke. Das Ganze hat durchweg etwas Sympathisch-Naives und so manches Mal tritt Marius in ein Fettnäpfchen. Am interessantesten fand ich dabei jedoch wieder den Unterschied zu Film- und Bühnenadaptionen. In Hugos Original ist nicht Eponine Marius‘ langjährige beste Freundin, die einen ersten Kontakt zwischen beiden herstellt – stattdessen ist Cosette schon lange vor Eponine Teil von Marius‘ Leben, wenngleich die beiden Verliebten sich stets nur aus der Ferne anschmachten. Eponine lernt Marius – obwohl sie Tür an Tür wohnen – erst viel später kennen. Die unbedarfte und äußerst liebenswerte Eponine ist schnell Feuer und Flamme für ihn und erklärt sich widerwillig bereit, herauszufinden, wer Cosette ist und wo sie lebt, nachdem diese zusammen mit ihrem Adoptivvater Jean Valjean bei den Thénardiers auftaucht.
Letzteres bildet übrigens den Wendepunkt zu einem spannungsgeladenen Moment: Thénardier erkennt Valjean wieder und bittet ihn, am selben Abend wiederzukommen – natürlich nur, um ihn in eine Falle zu locken. Hier verbinden sich die Schicksale der meisten wichtigen Charaktere an nur einem Tag: Valjean ist bei den Thénardiers, Marius beobachtet das Geschehen heimlich aus seinem Zimmer, Eponine steht draußen Schmiere – und Javert ist auf dem Weg zu den Thénardiers! Als wäre das nicht schon nervenaufreibend genug, spannt uns Hugo so richtig auf die Folter: Zum einen lässt er Marius zögern, Hilfe zu holen, als dieser erkennt, dass der kriminelle Thénardier der vermeintliche Retter seines Vaters ist; zum anderen lässt Victor Hugo Monsieur Thénardier im Gefahrenmoment gemütlich plaudern, während sich die Falle um Valjean immer mehr zuzieht und es kaum noch eine Möglichkeit zu geben scheint, wie Valjean lebend und zugleich sicher vor Javert aus dieser ganzen Sache rauskommen soll. Was habe ich auf diesen letzten Seiten des dritten Romanteils gezittert und gebangt! Doch letztlich nahm alles ein – vorerst – gutes Ende und ich kann entspannt in den vierten Part starten.
– Victor Hugo: „Les Misérables“
– aus dem Französischen ins Englische übersetzt von Norman Denny
– Verlag: Penguin Classics
– Publikationsjahr: 2013
– ISBN: 978-1-846-14049-5
Geplauder