[Achtung: Spoilergefahr! Wenn ihr weder das Buch noch eine der Verfilmungen kennt und es euch die Neugier verdirbt, wichtige Handlungsverläufe vorab zu erfahren, lest bitte nicht weiter. Wen es nicht stört, wesentliche Details verraten zu bekommen, der ist hingegen herzlich zur Lektüre des Artikels eingeladen.]
Von unserem ursprünglichen Lesetrio bin ich inzwischen die Einzige, die noch im dystopischen 1984 feststeckt: Miss Booleana hatte schnell viel mehr Lesezeit als ich und hat ihre Reise in die Welt von Big Brother bereits hinter sich; Svea von Läsglädje hingegen musste die Lektüre aus verschiedenen – nicht buchbedingten – Gründen abbrechen. Nun bin ich also allein in dieser albtraumhaften Welt, in die uns George Orwell entführte.
Im zweiten Part des Buches ging mir jedoch stellenweise der Atem aus. Während der erste Teil unglaublich beängstigend und schrecklich realistisch war, die Bedrohung und bedrückende Enge durch die Dauerbeobachtung in jeder Zeile spürbar war, plätscherte Teil 2 stellenweise sehr vor sich und die Handlungen, die sich vor allem auf die Liaison von Winston und Julia beschränken, geschahen mir irgendwie zu unbedacht und, ja, fast schon „sorglos“. Anfänglich wird noch sehr gut und detailliert geschildert, wie schwierig allein eine Kontaktaufnahme zwischen Winston und Julia ist und welch extreme Vorsicht die beiden an den Tag legen müssen, um sich in einem nicht von Kameras und Mikrofon überwachten Gebiet außerhalb der Stadt zu treffen. Doch sehr schnell geht das in eine Routine über, in der Winston sich relativ wenige Gedanken über die permanent über ihnen schwebende Bedrohung macht. Das erschien mir entweder als von Orwell geschickt dargestellter, gewaltiger Leichtsinn seitens Winston und Julia – oder einfach als Schwäche Orwells, die permanente Gefahr nicht kontinuierlich zu vermitteln (was ich für weniger wahrscheinlich halte).
Darüber hinaus raubte mir Julia gehörig die Nerven. Sie war mir von Anfang an suspekt – kein Wunder in einer Welt, in der man niemandem trauen kann. Doch mit jeder weiteren Seite entpuppte sie sich als größere Enttäuschung. Anfänglich verkaufte sie sich als große Rebellin, die ihrem Hass auf Big Brother bereits beim ersten unüberwachten Treffen mit dem noch vorsichtigen, zurückhaltenden und ihr wenig bekannten Winston offen Luft macht. Doch schon bald wird deutlich, dass es ihr nur um sexuelle Freiheit geht – alle weiteren Missstände sind ihr relativ egal und ihre Rebellion endet da, wo auch ihr körperliches Vergnügen endet. Selbst die traumatischen Erlebnisse und Kindheitserinnerungen von Winston interessieren sie nicht.
Um ehrlich zu sein: Ich rechnete jeden Augenblick damit, dass Julia tatsächlich als Spionin im Auftrag von Big Brother unterwegs ist und Winston verrät. Nun, Winston wird tatsächlich von der Gedankenpolizei verhaftet – allerdings zusammen mit Julia. Dem „großen Bruder“ bleibt eben nichts verborgen. Traue niemanden, fühle dich nie und nirgendwo sicher – was für Winston einst eine Selbstverständlichkeit und essentiell für das Überleben war, hat er durch Julia schnell vergessen. Die Verhaftung kommt für den Leser daher wenig überraschend, allerdings an der Stelle im Text ziemlich abrupt, denn kurz zuvor kommt Winston in Besitz von DEM BUCH des großen Staatsfeindes Emmanuel Goldstein. Über etliche Seiten lässt Orwell seine Leser an Auszügen aus Goldsteins theoretischer Abhandlung teilhaben, was zunächst von Winstons Geschichte ablenkt und dem Leser einiges an Konzentration abverlangt.
Doch obgleich sich DAS BUCH recht zäh liest, verrät es so manches über die Denkweise und Ideologie von Big Brother. So erklärt Emmanuel Goldstein in seinem Buch gut nachvollziehbar die Bedeutung des Slogans „WAR IS PEACE“ und damit die Strategie der drei großen Weltstaaten. Plötzlich erscheint vieles bestechend logisch, unabhängig davon, ob man dieser Denk- und Handlungsstrategie selber zustimmt oder nicht.
Tja, doch kaum gehört Winston zum geheimen Kreis der Aufständischen und ist bereit, nicht nur innerlich zu rebellieren, hat sein Kampf gegen das System auch schon sein Ende erreicht. Was ihm und Julia nun bevorsteht, dürfte wohl ein noch größerer Albtraum sein, als es das bisherige passive Leben bereits war …
Alle Beiträge zum gemeinsamen Lesen von „Nineteen Eighty-Four“:
♦ Ankündigung auf Phantásienreisen:
#WinstonsDiary – Läsglädje, Miss Booleana & Phantásienreisen lesen „1984“
♦ Erster Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „1984“ #WinstonsDiary (I)
♦ Erster Zwischenbericht auf Phantásienreisen: #WinstonsDiary – Teil I: Willkommen im nicht lebenswerten Leben!
♦ Zweiter Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „1984“ #WinstonsDiary (II)
♦ Rezension des gesamten Romans bei Miss Booleana: ausgelesen: George Orwell „1984“ (engl. Ausgabe)
♦ Vergleich zwischen Buch und Verfilmungen bei Miss Booleana: Vergleich zwischen Buch und Film: Orwells „1984“ vs. „Nineteen Eighty-Four“ (1956) vs. „1984“ (1984)
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Mensch! Ich hab zuletzt gar nicht mehr über den Hashtag getrackt, wer was geschrieben hat, weil mich der Alltag ein wenig abgelenkt hat. Im zweiten Drittel war ich zuerst total motiviert, weil ich es großartig fand wie Julia Winston anfangs zum Aufblühen bringt. So extrem unvorsichtig kam er mir auch nicht vor, mal abgesehen davon, dass er wirklich viel Vertrauen hatte als er den Raum über dem Geschäft gemietet hat.
Dann später in dem Drittel ging es mir ähnlich wie dir v.A. auch bei dem Buch wie du ja schon geschrieben hast.
Ich hoffe dir macht es trotzdem noch ein bisschen Spaß, auch wenn Svea und ich jetzt nicht mehr dabei sind!?
Das letzte Drittel habe ich jedenfalls als wahnsinnig spannend und erschütternd empfunden. Du hast ja schon von Raum 101 erfahren :-/
Ja, so ist das Leben manchmal ;) Ich hatte zwischenzeitlich auch eine Phase, in der ich den Hashtag ein paar Wochen nicht verfolgt habe und dann deine vielen Tweets erst einmal in Ruhe nachlesen musste :D
Ich weiß auch ehrlich gesagt gar nicht, ob unvorsichtig so das richtige Wort ist. Aber all die Zeit wurde immer so penibel deutlich gemacht, unter welch intensiven Dauerbeobachtung das Volk steht und kaum hatten Julia und Winston ihr erstes Date wird über diese Gefahr kaum noch ein Wort verloren und plötzlich wirkte es so einfach, sich der Kontrolle des Big Brother zu entziehen. Irgendwie hätte ich mir mehr Hürden für Julias und Winstons Liebelei gewünscht (vermutlich klingt das gerade herzlos ^^).
Vorhin nun habe ich den Rest des Buches gelesen und weiß, was sich hinter dem ominösen Raum 101 verbirgt…
PS: Nach deinem Buch-Film-Vergleich habe ich mir auch mal die Verfilmung aus den ’50ern angesehen und war ja regelrecht irritiert darüber, was für eine Schmonzette man daraus gemacht hat. Auch wenn es angesichts der Zeit wenig überrascht, was man aus Julia und dem Ende gebastelt hat, hätte ich mir doch ein bisschen weniger Kitsch erwartet.