„Das Streichholzschachtel-Tagebuch“ ist die Geschichte eines Antiquitätenhändlers, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seiner Familie von Italien in die USA emigrierte. Seine Urenkelin ist erstmals bei ihm zu Besuch und bestaunt die alten, kostbaren Bücher und Gegenstände in seinem Antiquitätenladen. Er schlägt ihr vor, sich einen Gegenstand auszusuchen – er würde ihr dann die zugehörige Geschichte erzählen. Durch Zufall sucht sich das kleine Mädchen eine Kiste aus, die lauter kleine Streichholzschachteln enthält und einst das Tagebuch ihres Urgroßvaters war. In den kleinen Streichholzschachteln bewahrt der alte Mann seit seiner Kindheit kleine Gegenstände auf, die ihn an bestimmte Situationen seines Lebens erinnern, in erster Linie an seine Emigration: ein Olivenkern als Symbol für den Hunger, den seine Familie in Italien erleiden musste; ein Ticket für das erste Baseballspiel seines Lebens; ein Zahn, der an die anfängliche Ausländerfeindlichkeit erinnert und viele weitere kleine Dinge, die nicht von materiellem, aber ideellen Wert sind. Anhand dieser kleinen Gegenstände erzählt der Antiquitätenhändler seiner Urenkelin, warum seine Familie Italien verließ, wie er in die USA kam, welche schweren, aber auch schönen Zeiten er dort mit seinen Eltern und Schwestern verlebte und warum er später Antiquitätenhändler wurde:
“ ‚[…] Dann habe ich mit Antiquitäten gehandelt. Mit alten Dingen, die Menschen über Jahre gesammelt haben und die voller Geschichten stecken. Eben die Tagebücher anderer Menschen.‘ „
Während des Lesens bekommt man unwillkürlich den Eindruck, dass der alte Mann direkt zu den Lesern spricht: Es gibt keinen Erzähler in Paul Fleischmans Buch, die ganze Geschichte ist ein reiner Dialog zwischen dem Antiquitätenhändler und seiner Urenkelin, wobei der alte Mann den größten Redeanteil hat. So rückt das kleine Mädchen während des Lesens zeitweise in den Hintergrund und gibt uns die Möglichkeit, an ihrer Stelle Platz zu nehmen und der Lebensgeschichte des Mannes zu lauschen. Eine Geschichte, die eigentlich lang und komplex ist, aber dennoch gekonnt auf weniger als 50 Seiten festgehalten wurde. Gerade als erwachsener Leser möchte man eigentlich noch mehr erfahren, all die Details aus dem Leben in der alten und neuen Heimat wissen – doch letztlich findet in dem dünnen Büchlein, das sich an Leser ab 5 Jahren richtet, alles Wesentliche Platz. Ganz unterschwellig wird dabei neben den eigentlichen Ereignissen auch vermittelt, was es bedeutet, sich in einem fremden Land einzuleben, dessen Sprache man nicht spricht, wie schwer es ist, dort Fuß zu fassen und wie wichtig es ist, seine Herkunft nie zu vergessen – sowohl die eigene, als auch die der Ahnen. Aber es ist zugleich eine Geschichte über den Wandel der Zeit, über die Möglichkeiten von früher und heute, über Lebensträume und den Wert von Bildung. Dass der Antiquitätenhändler und seine Urenkelin dabei namenlos bleiben, macht die von Paul Fleischman geschriebene Geschichte zu einem allgemeinen Portrait italienischer Migranten zu Beginn des 20. Jahrhunderts – es ist nicht das Schicksal eines speziellen Migranten, das erzählt wird, sondern eines, das so oder in ähnlicher Form viele erlebten.
Was „Das Streichholzschachtel-Tagebuch“ aber besonders lesenswert macht, sind die realistischen, detailreichen Illustrationen von Bagram Ibatoulline, die stellenweise schon nicht mehr wie gezeichnet, sondern fast wie fotografiert wirken – so mancher Gegenstand des Streichholzschachtel-Tagebuchs ist derart plastisch dargestellt, dass er regelrecht dreidimensional wirkt. In der Gegenwart taucht Ibatoulline seine Bilder in einladende, warme Farben, während die Szenen der Vergangenheit in Sepiatöne gehalten sind und so an alte Fotografien erinnern. Abgerundet wird das Ganze durch die Gestaltung der Buchseiten, die durch eine vergilbte Optik ideal zu einer Geschichte passen, die nahezu ein Jahrhundert umspannt.
Fazit:
Auf nicht einmal 50 Seiten erzählen Paul Fleischman und Illustrator Bagram Ibatoulline eine Auswanderergeschichte, die die Träume und Schwierigkeiten solcher Schicksale selbst für die kleinsten Leser anschaulich erzählt. Die mit viel Liebe zum Detail gestalteten Zeichnungen von Bagram Ibatoulline laden dabei zu einer wunderbaren, kleinen Zeitreise ein und machen „Das Streichholzschachtel-Tagebuch“ zu einem optischen Genuss für Leser jeden Alters.
Sehr schöner Artikel, der neugierig auf das Gesamtwerk macht :-)
Für Kinder ist das Buch wirklich klasse – gerade aus pädagogischer Sicht: die Thematik ist kindgerecht behandelt und die Geschichte spricht verschiedene positive wie negative Aspekte von Migrantion an, sodass auch ein Austausch über das Thema angeregt wird, das Buch also eine tolle Basis für eine nähere Auseinandersetzung ist. Auf jeden Fall ist es ein Buch, dass ich für meine zukünftigen Kinder aufbewahren werde ;)