Eigentlich startet die Verfilmung von Victor Hugos „Les Misérables“ erst am 21. Februar in den Kinos. Im Rahmen der diesjährigen „Berlinale“ strahlten am 9. Februar rund 120 Kinos in Deutschland und Österreich den Film aber als exklusive Gala-Preview aus. Auch unser Erfurter „Cinestar“ hat sich an der Aktion beteiligt, empfing jeden Besucher mit einem kostenlosen Gläschen Wein und verzichtete durchgängig auf Werbespots. 20.30 Uhr startete zunächst ein Live-Bericht vom roten Teppich des Berliner Friedrichstadtpalasts. Moderator Steven Gätjen plauderte ein wenig über Hintergründe des Film bzw. dessen Beteiligter und stellte unter anderem an Regisseur Tom Hooper und Hugh Jackman jeweils eine Handvoll Fragen.
Irgendwann begann dann der eigentliche Film. Und wenn ich schreibe „begann“, meine ich „richtig loslegen“: Gewöhnlicherweise starten Filme mit einem kurzen Überblick über das Setting oder einer kurzen Einführung in die Charaktere. Nicht so die Verfilmung von „Les Misérables“. Mit der ersten Sekunde Bild ertönt sofort „Look Down“ und man ist im eigentlichen Geschehen drin. Dabei wird auch sofort deutlich, dass die Darsteller während des Drehs live sangen und die Songs nicht vorher im Tonstudio produziert wurden: Der Gesang ist durch Atmen und körperliche Bewegung beeinflusst – wenn die Gefangenen beispielsweise schwer arbeiten, wirkt sich das auf die Stimme aus. Das macht den Gesang deutlich authentischer und nicht so popmusikalisch aufpoliert wie in anderen Musicalfilmen. Wenn man bedenkt, dass in rund 90 Prozent aller Szenen gesungen wird, ist diese Leistung umso beachtlicher. Auch sonst steht der Gesang im Vordergrund: Die Lieder tragen die ganze Handlung und sind nicht (wie zum Beispiel in „Mamma Mia!“) nur Ausdruck der Gefühlswelt oder zur reinen „Unterhaltung“ bzw. Untermalung. Wer mit Gesang in Filmen nichts anfangen kann, wird daher auch mit „Les Misérables“ nicht viel Freude haben. Wer Musicals jedoch schätzt und in Musik nicht nur Klang und Stimmungsbarometer sieht, für den ist die Verfilmung ein Genuss.
Die Verfilmung ist durch lange Einstellungen gesprägt, die den Fokus auf die Darsteller legen. Das gilt vor allem während der Soli. Während in anderen Musicalfilmen während der Lieder viel drum herum passiert, sieht man in dieser Produktion nur diejenigen, die gerade im Mittelpunkt des Handelns stehen. In den Soli von Anne Hathaway („I Dreamed A Dream“) und Samantha Barks („On My Own“) sieht man fast nur ihre Gesichter in Großaufnahme. Damit ist Regisseur Tom Hopper ein Wagnis eingegangen, da solche Momente Zuschauer schnell langweilen können. Doch die einzelnen Akteure bieten hierfür eine zu gute Performance – gesanglich wie schauspielerisch. Der einzige (erwachsene) Darsteller, der gesanglich ein wenig schwächelt, ist Russell Crowe bei seiner Interpretation von „Stars“. Dies ist aber nur beim Soundtrack wirklich auffällig, da im Film Bild und Ton wunderbar miteinander verschmelzen. Die anderen Gesangsparts gelingen Crowe zudem weitaus besser. Vor allem in „Javert’s Suicide“ bringt er die Verzweiflung seiner Figur großartig zur Geltung. Auch sonst ist er eine gute Besetzung für die Rolle des Javert, da man den Antagonisten des Films im Laufe der Handlung tatsächlich zu mögen beginnt und mit ihm fühlt. Gerade dies ist mir persönlich bei den Gegenspielern in Filmen wichtig: Dass sie nicht die eindimensionalen Bösen sind.
Der Star des Films ist für mich aber natürlich Hugh Jackman als Jean Valjean: Gesanglich und schauspielerisch eine durchgängig derart solide Leistung, dass ich gar nichts Spezielles weiter erwähnen könnte. Und der Rest der Cast? Helena Bonham Carter und Sacha Baron Cohen sind nun einmal Helena Bonham Carter und Sacha Baron Cohen. Versteht mich nicht falsch, ich meine dies positiv. Insbesondere Helena Bonham Carter mag ich mit jedem ihrer Filme als Schauspielerin mehr, was sicher auch an ihren Rollen liegt. Optisch erinnert ihr Styling in „Les Misérables“ zwar stellenweise an ihre Rollen in „Sweeney Todd“ und „Alice im Wunderland“, was ich persönlich jedoch nicht weiter schlimm finde.
Anne Hathaway, die mich in ihren vorigen Filmen nie so recht als Schauspielerin überzeugen konnte, verkörpert die tragische Fantine wirklich gut und hat mich vor allem mit ihrer schauspielerischen und gesanglichen Leistung in „I Dreamed A Dream“ überrascht.
Meine persönlichen Favoritinnen der weiblichen Charaktere bzw. Darsteller sind jedoch Samantha Barks als Éponine und Isabelle Allen als kleine Cosette. Erstere verkörperte Éponine bereits von 2010 bis 2011 an der „Les Misérables“-Produktion am Londoner Westend sowie auf der DVD-Produktion anlässlich des 25. Jubiläums des Musicals. Diese Erfahrung merkt man ihr einfach an – sie spielt die Éponine nicht nur, sie scheint sie regelrecht zu leben und ich hätte ihrer Figur nur zu gerne länger zugesehen und -gehört. Schade, dass Samantha Barks nicht mehr in der Bühnenproduktion zu sehen ist, sonst würde ich glatt meinen nächsten Londonbesuch planen. ;)
Isabelle Allen ist hingegen unglaublich hinreißend als Cosette. Man muss sie einfach ins Herz schließen, nicht nur weil sie das kleine Mädchen so liebenswert spielt. Denn auch ihr Gesang ist für ihr Alter wirklich gut – so gut, dass sie nach der Filmproduktion sogar am West End zu sehen war. Leider hat sie aber nur ein einziges Lied in „Les Misérables“. Die jugendliche Cosette wird schließlich von Amanda Seyfried verkörpert. Zu ihr fällt es mir schwer, etwas zu sagen. Zwar war sie gut, allerdings blieb sie mir zu blass und keine spezielle Szene in besonderer Erinnerung. Allerdings denke ich weniger, dass dies auf Amanda Seyfrieds Darbietung zurückzuführen ist, sondern eher daran lag, dass ihre Parts einfach nicht allzu viel hergaben.
Die Rolle des Marius wird von Eddie Redmayne verkörpert, dessen Leistung zum Ende hin immer besser wird. Ich persönlich hätte mir Aaron Tveit (alias Marius‘ Freund Enjolras) jedoch eher in dieser Rolle vorstellen können – aber das ist nur mein subjektives Empfinden. ;)
Insgesamt betrachtet kann ich sagen, dass all die Preise und Lobeshymnen, mit denen die Verfilmung überhäuft wurde, berechtigt sind. Die Leinwandadaption des Musicals kann einfach in jeder Hinsicht überzeugen: Cast, Bildausschnitte, Musik, Dramaturgie, Schnitt, Beleuchtung, Kostüme …. Einen großen Pluspunkt sehe ich darin, dass der Film eine britische Produktion ist und so keine typischen Hollywood-Elemente vorkommen. Beispielsweise gehen die Kampfszenen relativ ruhig von statten: keine schnelle Schnittfolge, die künstliche Dramatik aufbaut und kein Einsatz extremer Special Effects. In den USA wären die Szenen der Aufstände eine perfekte Vorlage gewesen, um zu zeigen, was man alles in der Trickkiste hat: viel Geknalle, Feuer und Blut en masse – ihr wisst, was ich meine. Das Team von „Les Misérables“ verzichtete glücklicherweise auf solche Dinge. Zudem ist den Verantwortlichen gelungen, keinen Kostümfilm daraus zu machen, was bei historischen Stoffen ja nur zu leicht passiert. Damit ist Tom Hoopers „Les Misérables“ eine Leinwandadaption geworden, die der Qualität und dem Anspruch des Musicals (und seiner literarischen Vorlage) gerecht wird. Im übrigen war der Film seit rund zwei Dekaden geplant! Zum Glück hat sich Hooper 2011 der Umsetzung angenommen und diese wunderbare Musicalverfilmung zum Leben erweckt. In diesem Sinne: Ein großes Kompliment an Regisseur, Drehbuchautoren, Produktionsteam, Musik-, Kamera- und Schnittverantwortliche sowie natürlich die Darsteller.
Einziger Kritikpunkt: Während der Filmvorführung gab es nur in einer Handvoll Lieder einen deutschen Untertitel. Für uns war dies kein Problem, doch wer des Englischen nicht mächtig ist und wem die Handlung völlig unbekannt ist, der wird arge Verständnisprobleme haben, da fast durchgängig gesungen wird. Ich gehe jedoch davon aus, dass es sich bei der Gala-Preview nur um eine unfertige deutsche Version handelte und ab offiziellem Kinostart eine Version läuft, die alle deutschen Untertitel enthält.
Doch nun genug der vielen Worte. Sichert euch Tickets für die Verfilmung und genießt die rund 2,5 Stunden! :) Und ich? Ich warte nun sehnsüchtig auf das Erscheinen der Blu-ray und freue mich umso mehr auf meinen Besuch der Magdeburger Open-Air-Inszenierung von „Les Misérables“ in diesem Sommer.
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