Im Vorwort zu „The Wonderful Wizard of Oz“ schrieb L. Frank Baum:
„Modern education includes morality; therefore the modern child seeks only entertainment in its wonder tales and gladly dispenses with all disagreeable incident. Having this thought in mind, the story of ‚The Wonderful Wizard of Oz‘ was written solely to please children of today. It aspires to being a modernized fairy tale, in which the wonderment and joy are retained and the heartaches and nightmares are left out.“
(L. Frank Baum: „The Wonderful Wizard of Oz“ In: „The Complete Wizard of Oz“, Bedford Park Books 2010, Kindle E-Book Location 456)
Baum wollte eine Geschichte schreiben, die ohne Grausamkeiten und Moral auskommt. Aber hat er das auch wirklich? Natürlich begleitet „The Wonderful Wizard of Oz“ kein gehobener Zeigefinger wie in Märchen oder Fabeln und es gibt auch nicht DIE EINE große Moral. Aber über die reine Unterhaltung geht die Geschichte hinaus; denn auch in Baums Erzählungen werden gewisse Werte transportiert: Allen voran sind das natürlich Mut bzw. Selbstvertrauen, Herz und Verstand – die drei Dinge, die sich der Löwe, der Blechmann und die Vogelscheuche wünschen. Drei Dinge, die jeden im Leben begleiten sollten und Wegweiser für Entscheidungen sind. Dass die drei Charaktere bereits über die von ihnen gewünschten Eigenschaften verfügen, ist ihnen dabei nicht bewusst – auch wir Menschen wissen nicht immer, was wir können und genau wie bei den drei Oz-Bewohnern entwickeln sich diese Eigenschaften bei uns ein Leben lang weiter.
Ähnliches gilt für Dorothys Wunsch: Trotz all der Schönheit der Städte und Dörfer in Oz sowie den neu gewonnenen Freunden wünscht sich das kleine Mädchen nichts sehnlicher, als zurück nach Kansas zu kommen. Dort ist es zwar öde, grau und staubig, aber es ist und bleibt ihr Zuhause, in dem sie ihr bisheriges Leben verbrachte und in dem ihre Familie auf sie wartet. Nicht ohne Grund ist ihre Aussage „There is no place like home“ zu einem der bekanntesten Literaturzitate geworden.
Zu guter Letzt geht es selbstverständlich auch um Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt und ums Verzeihen – schließlich vergeben auch die vier außergewöhnlichen Helden dem großen Oz, der nicht ist, was er jahrelang vorgab, zu sein.
Was Baums zweiten Kritikpunkt an klassischen Märchen und Kinderbüchern betrifft, nämlich Gewalt und Grausamkeit, so ist auch „The Wonderful Wizard of Oz“ nicht gerade Vorbild einer heilen Welt. Wenn beispielsweise der Blechmann ohne ein Augenzwinkern einer Katze und einem Rudel Wölfe die Köpfe abschlägt, ist dies immerhin alles andere als harmlos.
Ich bin natürlich nicht die Erste, die sich über Baums Intention und tatsächliche Umsetzung Gedanken gemacht hat. Andere Leser, Kritiker, Rezensenten und Wissenschaftler haben sich ebenfalls schon damit beschäftigt – mit teils unterschiedlichen Auffassungen. Eine sehr interessante und intensive Auseinandersetzung mit dem Thema findet sich bei „Decent Films Guide“, auch wenn hier die Verfilmung die eigentliche Basis ist.
Was denkt ihr darüber? Kann es überhaupt (Kinder-)Bücher geben, die absolut gar keine Werte vermitteln? Oder wird nicht doch immer eine gewisse Botschaft transportiert – wenn auch unbewusst?
Ob es (Kinder-)Bücher geben kann, die absolut gar keine Werte vermitteln?
Ich würde sagen – nein.
Du hast formuliert: „kann“. Das heißt – ist es überhaupt möglich und das gilt dann für Bücher überhaupt. Jeder Mensch hat ein Wertesystem, es geht gar nicht anders, schließlich müssen wir die Dinge um uns bewerten können, wir müssen auswählen, wir müssen Entscheidungen treffen. Wir streben Ziele an und brauchen dafür Handlungsoptionen. Wir bewegen uns in einem gesellschaftlichen Rahmen. Und: es gibt eine Erzähltradition, mit der können wir spielen, aber – wir stehen nicht außerhalb, weil alle unsere Geschichten einen Ursprung haben. Eine Erzählung wird also immer die Weltsicht des Erzählers transportieren. Damit transportieren alle Geschichten auch eine Art von Moral. Selbst eine „unmoralische“, denn jeder hat etwas, das er/sie für richtig hält – oder wahr.
Du erwähnst die Gewalt und Grausamkeit im Buch (mir kommt es übrigens so vor, als ob dieser Faktor gerade in „Jugend-“ oder auch „All-Age-Büchern“ in den letzten Jahrzehnten zugenommen habe, aber das nur nebenbei):
Ich weiß nicht ob eine Geschichte ohne etwas „Düsteres“ auskommt. Vielleicht schon. Aber Geschichten entwickeln sich immer in einem Spannungsverhältnis, es gibt da das Ersehnte und/oder das Befürchtete. Das besondere an fantastischen Geschichte ist, daß sie Bilder zeigen können, in die unsere Psyche unsere Ängste und Sehnsüchte kleidet. Bilder sind das perfekte Ausdrucksmittel dafür. Mir scheint, besonders ganz schlichte Bilder fangen die tiefsten Ängste. Vielleicht tauchen deshalb gerade in sogenannten Kindergeschichten so unheimliche Geschehnisse/Gestalten auf, sie repräsentieren tiefe Ängste, die wir schon als Kind verspüren. (Übrigens sind Märchen während der größten Zeit ihrer Existenz nicht als Kindergeschichten erzählt worden. Grimms Märchensammlung ist ein Werk der bürgerlichen Epoche und der kulturellen Vorstellungen, die in dieser Zeit entwickelt wurden. Die Geschichten wurden von den Grimms auch den Moralvorstellungen dieser Zeit ein wenig angepasst).