Anfang des 19. Jahrhunderts erstellte der frühere Kaufmann Inō Tadataka die erste vollständige Karte Japans. Das Besondere daran: Die Entfernungen maß er fast ausschließlich anhand seiner Schritte, deren einheitliche Länge er sich jahrelang antrainierte, und seine Karten weisen eine Genauigkeit von bis zu einem Tausendstel Grad auf.
Inō Tadataka Vermessung und Erkundung zu Fuß nahm Jiro Taniguchi als Basis, um Edo (das heutige Tokio) zu porträtieren. Dabei ging es Taniguchi weniger darum, einen historischen Abriss zu kreieren, als vielmehr darum „Edo aus der Sicht eines Spazierenden darzustellen“. Genau das sollte man auch im Hinterkopf behalten, wenn man sich der Lektüre von „Der Kartograph“ widmet, denn weder erzählt Taniguchi die Geschichte des bedeutenden Landvermessers noch die Geschichte der späteren Metropole Tokio. Wie schon in „Der spazierende Mann“ nimmt uns Taniguchi stattdessen mit auf kleine Streifzüge durch die Straßen und die Natur, nur dass der Spazierende, den wir begleiten, eben zufällig Inō Tadataka ist, der gerade dabei ist, die Genauigkeit seiner Schrittweite zu üben.
Im Verlauf eines Jahres schlendern wir in voneinander unabhängigen Episoden unter den Kirschblüten auf dem Hügel des Ueno entlang, werden von plötzlichen Regengüssen erwischt, besuchen Schreine und verirren uns in den unterschiedlichen Vierteln der japanischen Hauptstadt. Wir treffen auf Zeichner, Schauspieler und Dichter, die uns die Wunder und Poesie des Alltags zeigen; und wir genießen eine Menge Soba-Nudeln, Sake und Tee (ich empfehle, „Der Kartograph“ nur dann zu lesen, wenn ihr ein japanisches Restaurant in der Nähe habt, um den bei der Lektüre wachsenden Appetit stillen zu können).
Immer wieder verliert sich Inō Tadataka auch in (Tag-)Träumen, denen etwas regelrecht Meditatives anhaftet. Dabei stellt er sich vor, die Welt durch die Augen der Tiere wahrzunehmen und lässt seinen Geist wandern, um Edo unter Wasser oder aus der Luft zu erkunden. Diese für uns Menschen ungewöhnlichen Perspektiven hat Jiro Taniguchi in gewohnt detailreiche, realitätsgetreue Bilder eingefangen, die eine einfache Wiese wie einen unbezwingbaren Dschungel und einen Libellenflug über Edo wie eine Achterbahnfahrt wirken lassen. Doch auch außerhalb dieser Traumsequenzen beweist Taniguchi sein gewohntes Händchen für Atmosphäre und fotografisch anmutende Panoramen. Dabei gelingt es ihm, den Zauber der Natur, den ich mit Inō Tadataka entdecke, einfach und beeindruckend zugleich festzuhalten, sodass ich meine, plötzlich selbst von einem Schwarm Glühwürmchen umgeben zu sein oder den Wind zwischen den Bäumen und Gräsern zu hören.
Ganz nebenbei bekomme ich dank Taniguchis Ansatz, den Alltag in Edo zu erleben, ein Gespür für die Edo-Zeit. Ich sehe nicht nur, wie das heutige Tokio einst ausgesehen hat, sondern erfahre ganz nebenbei auch etwas über Dichter, Zeichner, Volkslieder und Feste.
Ein bisschen bedauert habe ich bei der Lektüre von „Der Kartograph“ jedoch, dass ich als Leserin kaum etwas über Inō Tadatakas Lebensweg und seine ursprünglichen Beweggründe zur Landvermessung lerne. Als ich die Buchdeckel nach der Lektüre zuklappte, konnte ich daher noch nicht genau greifen, welchen Eindruck „Der Kartograph“ letztlich auf mich hinterließ: Einerseits mochte ich die kleinen Episoden aus Inō Tadatakas Streifzügen durch Edo, andererseits hatte ich das Gefühl, etwas zu vermissen, das ich nicht benennen konnte. Während ich nun diesen Beitrag schreibe und ein wenig Abstand von der Lektüre gewonnen habe, hallen in mir indes nur noch die positiven Empfindungen und Eindrücke von „Der Kartograph“ nach. Letztlich hat Taniguchi es geschafft, dass ich mich nach der Lektüre intensiver mit Inō Tadataka beschäftige und erneut meinen Geist weite. So streift mein Blick vom Laptop zu Taniguchis feinen, klaren Zeichnungen hin zur Natur vor meinem Fenster und wie Inō Tadataka lasse ich mich darauf ein, die Welt durch die Augen der Tiere, Künstler und Poeten wahrzunehmen, den Fokus auf die Details und das scheinbar Unscheinbare zu richten.
Fazit:
Wer eine Biografie Inō Tadatakas sucht, ist mit „Der Kartograph“ falsch bedient. Wer jedoch ein Gespür für Japan in der Edo-Zeit bekommen möchte, sich gerne im Moment verliert und über die kleinen Wunder unserer Welt staunt, für den ist auch dieses Werk Jiro Taniguchis eine gute Wahl.
Klingt sehr gut. Ich möchte dieses Jahr endlich die Werke des Mangaka aufarbeiten und dieses hier fehlt noch auf meiner Liste.
Wenn ein Buch, trotz Kritikpunkten, einen guten Eindruck hinterlässt, spricht das eindeutig für das Werk :D
Eine sehr gute Idee, Taniguchis Werk nachzuholen! Er hat einen ganz wunderbaren Zeichen- und Erzählstil, der sich im Laufe der Jahrzehnte und der Genrewechsel auch sehr weiterentwickelt hat. Ich hoffe, du wirst seine Geschichten und Bilder ebenso genießen wie ich.
Und ja: Taniguchis Werke entsprechend manchmal nicht dem, was man anfangs erwartet hat oder was der Titel zunächst suggeriert, am Ende bleiben sie aber dennoch positiv im Gedächtnis. Was ich besonders schätze, sind Taniguchis Blick für die kleinen, alltäglichen Dinge, seine Darstellungen der Natur und die Tatsache, dass ich nach dem Zuklappen seiner Bücher nie direkt in ein anderen einsteigen kann, sondern mich immer noch lange danach mit den Inhalten beschäftige und ein Stück von der Ruhe und „Achtsamkeit“ in den Geschichten auf mich übergeht. Das schaffen bei mir nicht viele Werke auf Literatur, Comic/ Manga oder gar Film und Musik.
Taniguchi *herz* – vielen Dank für diese schöne Vorstellung des Comics. Ich habe richtig Lust drauf bekommen und Jiro Taniguchi halte ich eh für ein Muss!
Liebe Grüße,
Sandra
Herzlichen Dank, Sandra, für deine lieben Worte! Es freut mich, dass du meine Besprechung so mochtest – und dass der Beitrag bzw. Taniguchis Werk so viel Aufmerksamkeit bekommt! Taniguchi hat diese Aufmerksamkeit mehr als verdient und ist, wie du sagst, wirklich ein Muss. Er war wirklich ein Ausnahmekünstler und -erzähler und eine große Inspiration, nicht nur für Künstler, sondern auch dahingehend, mit welchem Blick man durch die Welt und den Alltag gehen kann. :)
Deine Buchvorstellung hat mir große Lust auf das Buch gemacht! Werde es mir merken und bei nächster Gelegenheit in der Buchhandlung anschauen! Danke.
GlG, monerl
Ich bin noch immer ganz glücklich, dass ich dich mit meinen Zeilen so spontan zum Kauf anregen konnte. Nun wünsche ich dir natürlich, dass du ebenfalls begeistert und „verzaubert“ vom Alltag aus der Lektüre herausgehst und „Der Kartograph“ nicht dein letzter Taniguchi sein wird. :)
Das klingt nach einer sehr interessanten Reise ins damalige „Edo“, aber ich kann auch dein Gefühl sehr gut nachvollziehen „Was habe ich jetzt hier gelernt?“ Man liest ja eigentlich über eine sehr bekannte Person und hat wegen des Charakters der Geschichten und Erzählweise den Eindruck, dass das Gesehene im Schatten der großen Person verschwindet. Verglichen damit nichtig ist. Auch wenn das Buch nicht von einer berühmten Person handelte, erinnert mich das etwas an „Der geheime Garten vom Nakano Broadway“, auch von Taniguchi. So doof das jetzt klingt, da war nix mit einem geheimen Garten und ich war nach dem Lesen wie orientierungslos. Aber irgendwie schafft der Taniguchi es ja doch, dass die Geschichte bei einem hängenbleibt. Er zelebriert immer das einfache Leben und den Alltag … das finde ich auch sehr angenehm und wünschte oftmals, dass ich auch mit offeneren Augen für die kleinen Dinge durch den Tag gehen würde … .
Du bringst das Dilemma perfekt auf den Punkt! Titel und Klappentext wecken immer bestimmte Erwartungen – und wenn sich die Umsetzung dann als sehr anders erweist, irritiert mich das immer. Aber wie du schon sagst: Taniguchi schafft es dennoch jedes Mal, dass man seine Werke nie enttäuscht zuklappt und irgendetwas für sich mitnimmt. Umso erstaunlicher finde ich das, weil sich die zentralen Themen/ Botschaften ja häufig ähneln.
Taniguchi hat auf jeden Fall eine große Lücke auf dem Markt hinterlassen und ich bin froh, dass ich noch einige Titel von ihm vor mir habe (erst letzte Woche habe ich mir – noch geprägt vom Kartographen – endlich „Vertraute Fremde“ gekauft :) ).