In einem Secondhandladen in Kathmandu entdeckt der Fotograf Fukamachi Makoto eine alte Kamera, die ihm allzu bekannt erscheint: Genau mit diesem Modell – einer Kodak Vest Pocket Autographic Special – begab sich einst der legendäre George Mallory auf den Mount Everest. Seine Kamera wurde jedoch nie gefunden. Fukamachi ist überzeugt, dass das vor ihm stehende Gerät nicht einfach nur zufällig ein weiteres Exemplar des gleichen Modells ist, sondern dass genau diese Kamera einst George Mallory gehörte. Kurzerhand kauft er sie und beginnt, Nachforschungen anzustellen. Diese wecken jedoch die Aufmerksamkeit zwielichtiger Personen und plötzlich sieht sich Fukamachi dem Bergsteiger Habu Yoshi gegenüber. Habu war Jahre zuvor zu einer Bergsteigerlegende in Japan herangewachsen – bewundert für sein Gespür und seine Leidenschaft für die Berge, seine Beharrlicheit und das Erklettern der gefährlichsten Felswand Japans, aber auch berüchtigt für sein fehlendes Taktgefühl, seine Engstirnigkeit und seine nicht unkomplizierte Art. Doch eines Tages verschwand Habu Yoshi urplötzlich aus der Bergsteigerszene und nach der Begegnung mit ihm in Kathmandu ist Fukamachis Neugier auf Habus Geschichte entbrannt.
Während ich als Leserin immer tiefer in Habus Vergangenheit vordrang, entfaltete Habus Leben auf mich die gleiche Faszination und Anziehungskraft wie auf Fukamachi. Ich war zunehmend gebannt und wäre am liebsten selbst in die Berge aufgebrochen. Autor Baku Yumemakura und Mangaka Jiro Taniguchi verstehen es, Spannung aufzubauen und die Kulissen der Berge imposant in Szene zu setzen. Selbst Leser, die sich bislang nicht sonderlich fürs Bergsteigen interessierten und über keinerlei Erfahrung oder Wissen darüber verfügen, dürften sich der Sogwirkung von „Gipfel der Götter“ daher nicht entziehen können. Jiro Taniguchi findet in seiner Adaption des gleichnamigen Romans von Baku Yumemakura die perfekte Balance aus komplexer, tiefgehender Erzählung, clever gesetzten Cliffhangern, relevanten Informationen, Raum für Interpretation, leisen Zwischentönen und inspirierenden, detailreichen Panoramen. Wie Fukamachi verlor auch ich mich in diesem monumentalen Bergsteigerepos. Ich blickte ehrfürchtig zu den Gipfeln empor, ließ die Stille und Weite der Bergketten auf mich wirken, spürte Habus besondere Sehnsucht nach den Bergen in mir selbst, war beeindruckt und voller Respekt gegenüber den Leistungen der Alpinisten, die regelmäßig ihr Leben aufs Spiel setzten und begann, mit Habu mitzufiebern. So kam es auch, dass – obwohl Habu alles andere als ein Sympathieträger ist – ich mich unweigerlich auf seine Seite schlug, als sein Konkurrent Hase Tsuneo internationalen Ruhm und Anerkennung erntete. Die Geschichte von Habu Yoshi und Hase Tsuneo ist dabei von Taniguchi und Yumemakura derart detailliert, vielschichtig und authentisch umgesetzt, dass ich mir immer wieder in Erinnerung rufen musste, dass die beiden Bergsteiger rein fiktive Charaktere sind. Tatsächlich ertappte ich mich oft dabei, wie ich Google und Wikipedia startete, um mich näher über das Leben und die Erfolge von Habu Yoshi und Hase Tsuneo zu belesen, Presseberichte und Fotos zu suchen, die natürlich nicht existieren. Das ist etwas, das in meinem ganzen Leben noch kein einziges Buch geschafft hat und bestätigt, dass die fünfbändige „Gipfel der Götter“-Reihe zu Recht zu einem der wichtigsten und besten Werke Jiro Taniguchis gezählt wird.
Das einzige Manko sehe ich darin, dass der ursprüngliche Aufhänger der Geschichte – die Kamera Mallorys – während Fukamachis Recherchen zu Habu Yoshi komplett aus dem Fokus gerät. Der Fund der Kamera erhielt dadurch für mich den bitteren Beigeschmack eines Mittels zum Zwecke der eigentlichen Handlung. Doch vor mir liegen noch vier Bände der Reihe und vielleicht wird dieser Faden, wie auch einige andere offenen Fragen, noch einmal aufgegriffen.
Fazit:
Müsste ich „Gipfel der Götter“ mit nur einem Wort beschreiben, wäre es „Leidenschaft“: Leidenschaft für das Bergsteigen, die bei Alpinist Habu Yoshi zu einer regelrechten Obsession auswächst, die bei den Recherchen in Nepal zunehmend von Fotograf Fukamachi Makoto Besitz ergreift und die sich schließlich klammheimlich auch auf mich als Leserin übertragen hat. Wenn ihr in eurem Leben nur eine einzige Manga-Reihe lest, lasst es unbedingt diese sein!
PS: Ein herzliches Dankeschön an dieser Stelle an meine liebe Bloggerkollegin Miss Booleana, der ich dieses Leseerlebnis zu verdanken habe!
„Wenn ihr in eurem Leben nur eine einzige Manga-Reihe lest, lasst es unbedingt diese sein!“ – wow, besser kann ich es nicht ausdrücken. :D Mir erging das genauso, es ist der vielleicht beste Manga, den ich bisher gelesen habe und bestimmte Schlüsselszenen habe ich noch Monate danach nicht vergessen und erinnere mich noch heute daran. Ich bin außerdem nicht so ein Fan davon Reihen nochmal zu lesen, aber bei dem wird die Zeit bestimmt kommen und es freut mich riesig, dass der erste Band bei dir so gut ankommt. :D
Was die Kamera von Mallory betrifft, muss ich dir auch zustimmen – auf mich wirkte das auch wie ein MacGuffin oder Plot Device, der scheinbar alles nur ins Rollen bringt. Aber wenn man weiterliest kommt da noch was ;) Ich will aber nicht spoilern. Nur anspornen :D
Auch was die Biografien von Hase und Habu betrifft, ging es mir genauso. Das wirkte so detailliert und mit sovielen Realwelt-Fakten verbunden, dass ich dachte, dass es echt sein muss. Bei Habu habe ich mich noch in Zaum halten können, aber bei Hase Tsuneo dachte ich lange, dass es den wahrscheinlich wirklich gegeben hat.
Wenn sogar du, die so viel mehr Mangas kennt als ich, „Gipfel der Götter“ zu dem vielleicht besten Manga zählst, heißt das wirklich was – Taniguchi ist aber auch einfach ein verdammt guter Künstler und Erzähler gewesen. (Interessant finde ich ja immer wieder, dass er in Japan selbst gar nicht so gefeiert wurde wie in Europa, zumindest verglichen mit anderen Mangaka.)
Mit dem ersten Band hast du mich echt angefixt und ich hab mich nach der letzten Seite echt geärgert, dass ich Band 2 noch nicht habe. So kurz vorm Urlaub wollte ich aber auch keine Buchkäufe mehr tätigen, daher muss die Fortsetzung wohl oder übel noch ein Weilchen warten. Leider. :(
Gut zu wissen, dass zur Kamera doch noch einmal etwas gesagt wird – als Spoiler empfinde ich das nicht, es macht eher noch neugieriger und beruhigt mich ein wenig. :)
Oh man, jetzt muss ich aber endlich antworten! Entschuldige, dass ich so spät dran bin ^^“
Jetzt fühle ich mich aber geschmeichelt, aber ich habe manchmal gar nicht mehr den Eindruck, dass ich noch Plan von der Mangaszene habe. Das Interesse der Hauptzielgruppe (Teens) geht irgendwie eben doch in eine andere Richtung als meins …
Dass er in Japan gar nicht so gefeiert wurde, habe ich tatsächlich erst in einem Nachruf gelesen, als er gerade gestorben war. Das hat mich dann direkt doppelt traurig gemacht! Aber wiederum sehr schön, dass auf dem deutschen Markt soviel von ihm erschienen ist.
Freut mich, dass du es vielleicht weiterlesen möchtest ;)
Liebe Kathrin,
ein toller Tipp. Ich habe schon länger auch mit diesen „älteren“ Storys von Jiro Taniguchi geliebäugelt. Nachdem ich „Ice Age. Chronicle of the Earth“ jetzt aber nicht sooo einfach fand, war ich bei den Ausgaben seiner ersten Manga bisher zurückhaltend. Ich bin gerade auf dem Weg in den Comicbuchladen und ich glaube … ich weiß, was ich heute zusätzlich zu den dort für mich liegenden Sachen mitnehme.
Liebe Grüße,
Sandra
Ich bin gespannt, wie dir „Gipfel der Götter“ zusagen wird. Die älteren Werke unterscheiden sich ja doch von Taniguchis jüngsten Stories, sind optisch aber genauso fein ausgearbeitet. „Ice Age“ liegt hier momentan noch ungelesen (leider). Schade, dass dich die beiden Bände nicht recht überzeugen konnte – deine Rezension dazu sehe ich mir gleich noch an (die ging letztes Jahr völlig an mir vorbei, da ich zu dem Zeitpunkt verreist war).
Kathrin … ich habe es bestellt. Und du bist schuld! Ich hoffe sehr, dass dir das gefällt :-)
Danke nochmal für den Tipp, ich melde mich hier wieder, wenn ich es gelesen habe.
LG,
Sandra
Haha XD Die Schuld nehme ich gern auf mich! Und eigentlich ist es ja Steffis (Miss Booleanas) Schuld, denn ohne die hätte ich die Reihe wohl erst in Jahren für mich entdeckt. ;)