Vor einigen Jahren traten die Betreiber des Shojushin-Tempels in Tachikawa an den kürzlich verstorbenen Jiro Taniguchi mit der Bitte heran, einen Manga zu Ehren der Tempelgründerin Tomoji Ito zu zeichnen und somit insbesondere jungen Menschen das Leben der spirituellen Führerin nahe zu bringen. Taniguchi, dessen Frau regelmäßige Besucherin des Shojushin-Tempels ist, willigte ein, jedoch unter der Voraussetzung, sich künstlerische Freiheiten herausnehmen zu dürfen.

„[…] mir war klar geworden, dass auf der Grundlage rein biografischer Fakten kein tragfähiger Manga zu machen sein würde. All die Episoden eines menschlichen Lebens, wie intensiv und leidenschaftlich es auch geführt worden sein mag, sind nicht automatisch auch fesselnd. […] Um eine funktionierende Geschichte zu bauen, ist es unerlässlich, auf Fiktionales zurückzugreifen.“

(Jiro Taniguchi im Interview mit Thomas Hantson im August 2014, übersetzt von Uli Pröfrock)

So kam es, dass Jiro Taniguchi sich nicht Tomoji der Tempelgründerin mitsamt ihrer historischen wie spirituellen Bedeutsamkeit widmete – zu diesem Teil von Tomojis Leben gab es bereits genug Publikationen. Taniguchi war vielmehr daran gelegen, die Leser mit Tomoji als Kind und Frau vertraut zu machen, den Weg aufzuzeigen, der sie überhaupt erst zu dem Menschen machte, als der sie in die Geschichte einging, der ihre spirituelle Persönlichkeit formte und ihr Denken und Handeln prägte.

Dieses Vorhaben ist dem Mangaka hervorragend gelungen. Dass Taniguchi fiktional arbeitete, ist dem Werk dabei kaum anzumerken. Wer mit Tomoji Itos Lebensweg sehr vertraut ist, wird sicher das ein oder andere finden, das nicht gänzlich den Tatsachen entspricht, aus rein dramaturgischer Sicht fallen diese künstlerischen Freiheiten jedoch kaum ins Gewicht. Taniguchi „überdramatisiert“ nicht, spitzt Handlungen nie zu sehr zu. Im Gegenteil: In leisen, zurückhaltenden Tönen erzählt der Mangaka von Tomojis Kindheit auf dem Lande, ihrer Jugend und wie sie beginnt, ihren eigenen Weg zu gehen. Wir lernen eine Tomoji kennen, die schon früh ihre Eltern und ihre jüngere Schwester verliert, die aber trotz dieser schweren Schicksalsschläge voller Lebensfreude, Neugier und Offenheit bleibt. Tomojis Alltag ist durch harte Arbeit geprägt, aber auch durch die Dorfgemeinschaft, in der man füreinander da ist. Besonders Tomojis älterer Bruder Toyo und ihre Großmutter prägen den Charakter des Mädchens nachhaltig: Toyo übernimmt die elterlichen Pflichten, die Verantwortung und Fürsorge für seine jüngere Schwester – er verzichtet sogar auf den Besuch der weiterführenden Schule, um im Laden der Großmutter anzupacken und Tomoji später den weiteren Schulbesuch zu ermöglichen. Die gleiche Selbstlosigkeit findet sich in Tomojis und Toyos Großmutter Kin, die im Dorf für ihre Hilfsbereitschaft bekannt ist und als Medium agiert. Großmutter Kin wird damit für Tomoji nicht nur charakterlich, sondern auch spirituell ein Vorbild.

Dennoch ist es nicht Tomojis spiritueller Werdegang, der im Fokus des Mangas steht, sondern ihre allgemeine persönliche Entwicklung und die Herausbildung ihrer charakterlichen Stärken. Taniguchi, der für „Ihr Name war Tomoji“ mit der Szenaristin Miwako Ogihara zusammenarbeitete, hat ruhige Panels erschaffen und sich Zeit für die Episoden in Tomojis Leben genommen. Er entschleunigt so nicht nur das Lesen, sondern lenkt den Fokus zugleich auf das Zwischenmenschliche und die inneren Prozesse der Charaktere. Mit nur wenigen Worten, aber ausdrucksstarker Mimik vermittelt er in seinen Bildern alles, was sich eigentlich kaum in Worte fassen lässt und schafft eine zarte Vertrautheit mit Tomoji, Toyo, Großmutter Kin und Tomojis späterem Ehemann Fumiaki.

Besonderen Eindruck hinterlässt die grafische Aufarbeitung der jeweiligen Szenarien. In detailreichen, imposanten, regelrecht poetischen Bildern fängt Taniguchi das ländliche Leben Japans in den ’10er bis ’30er Jahren ein. Immer wieder saß ich staunend vor diesen Bildern, die stellenweise wirken wie alte Fotografien oder auf Leinen gemalt. Ich spürte den lauen Wind, der über die Felder wehte, beobachtete die Ähren, die sich im Wind wogten, hörte das Rascheln der Blätter, lauschte dem beruhigenden Prasseln des Regens und lenkte beim Ruf des Milans aufmerksam den Blick gen Himmel. Zu gern hätte ich länger hier verweilt, auf dem Gras liegend und Tomoji begleitend … Eines ist gewiss: Ich werde wiederkommen.

Fazit:

Mit „Ihr Name war Tomoji“ hat Jiro Taniguchi nicht nur der Tempelgründerin Tomoji Ito ein poetisch wirkendes, bildgewaltiges und zugleich vornehm zurückhaltendes Denkmal gesetzt, sondern erneut bewiesen, warum er zu den bedeutendsten Mangaka zählt. „Ihr Name ist Tomoji“ ist ein visuelles Meisterwerk von einem Ausnahmetalent und ein wahrer Schatz im Bücherregal.

Jiro Taniguchi: „Ihr Name war Tomoji“, Szenario in Zusammenarbeit mit Miwako Ogihara, aus dem Japanischen übersetzt von John Schmitt-Weigand, Carlsen 2016, ISBN: 978-3-551-76-104-0