Ich habe schon viele Bücher von John Boyne gelesen, die mich aufwühlten, zu Tränen rührten und die ich gerne jedem Menschen auf der Erde in die Hand drücken möchte, doch „The Boy at the Top of the Mountain“ hat das Potenzial, Wellen zu schlagen wie einst „The Boy in the Striped Pyjamas“ („Der Junge im gestreiften Pyjama“). Das liegt nicht nur an den inhaltlichen Gemeinsamkeiten: Beide Bücher spielen zur Zeit des Holocausts und haben einen Jungen als Protagonisten, der unter ranghohen Nazis aufwächst, aber mit einem Juden befreundet ist. Tatsächlich begegnen sich die Protagonisten beider Bücher sogar in „The Boy at the Top of the Mountain“ und ihre Geschichten sind clever miteinander verknüpft. Doch während Bruno in „The Boy in the Striped Pyjamas“ das nationalsozialistische Weltbild seines Vaters nicht nachvollziehen kann, versinkt der Junge Pierrot in „The Boy at the Top of the Mountain“ immer tiefer im braunen Sumpf und verrät dabei sich selbst und alle, die ihm je wichtig gewesen sind.
Genau hier liegt die größte Stärke von „The Boy at the Top of the Mountain“: zu zeigen, wie einfach, unterschwellig, ja fast schon beiläufig das rechte Weltbild in die Köpfe der Jüngsten gepflanzt wird und wie es dazu kommen konnte, dass so viele Menschen blind Hitler folgten, ihn sogar regelrecht idealisierten. Dies zu beobachten, zu lesen, mit welcher Rhetorik die deutsche Bevölkerung dazu gebracht wurde, kaltblütig zu hassen und sich selbst als Nabel der Welt zu sehen, offenbart immer wieder Parallelen zu aktuellen politischen Entwicklungen. Das verleiht John Boynes Buch eine gewaltige Aktualität und macht die Lektüre – vor allem für junge Menschen – umso wichtiger.
„‚[…] He [Adolf Hitler] says that he is illuminating the minds of the German people – but no, he is the darkness at the centre of the world.'“ (S. 144)
Das Leben unseres Protagonisten Pierrot Fischer hätte dabei ganz anders verlaufen können, er hätte vielleicht sogar ein Kämpfer für Gleichberechtigung und Toleranz werden können. Denn Pierrot verbringt als Sohn einer Französin und eines Deutschen seine ersten Lebensjahre in Paris, sein bester Freund ist der jüdische Nachbarsjunge Anshel. Anshel und Pierrot ergänzen einander perfekt, sie fühlen sich eher wie Brüder statt nur wie Freunde und da Anshel taub ist, entsteht durch die Kommunikation via Zeichensprache ein ganz besondere Nähe und Verbundenheit; sie geben sich eigene Namen und natürlich vertrauen sie sich Dinge an, die sonst niemand weiß. Nur drei Seiten benötigt John Boyne, um mich als Leserin in diese Vertrautheit der beiden Jungen einzuweihen und mich wissen zu lassen, dass es sich hier um eine ganz besondere Freundschaft handelt, eine Freundschaft, von der ich felsenfest überzeugt bin, dass sie alle Widerstände überwindet und stärker ist als Propaganda und Hass. Tatsächlich unterscheidet Pierrot zunächst auch nicht zwischen Juden und Nicht-Juden, versteht nicht, warum sein Vater wütend auf Juden ist. Doch wir, wir erwachsenen Leser, wissen warum. Wir wissen, dass sein deutscher Vater Wilhelm Fischer, der im ersten Weltkrieg kämpfte, sich wie viele seiner Landsleute beraubt fühlt und von der Nazi-Propaganda angesteckt ist. Das treibt auch zunehmend einen Keil zwischen Pierrots Eltern, die sowieso schon unter den Folgen des ersten Weltkrieges zu leiden haben: Zwar sei Wilhelm nicht im Krieg gestorben, doch hat der Krieg ihn dennoch getötet, wie Pierrots Mutter stets zu sagen pflegte, wenn Wilhelm wieder einmal seine dunklen Erinnerungen in Alkohol ertränkt.
Nach dem Tod seiner Eltern ändert sich für Pierrot jedoch alles: Entgegen seiner Hoffnung, bei Anshel und dessen Familie zu leben, muss Pierrot zunächst ins Waisenhaus und kommt schließlich in die Obhut seiner deutschen Tante Beatrix – einer Tante, die er noch nie gesehen hat und über die sein Vater nie sprechen wollte. Beatrix holt Pierrot in der Absicht zu sich, ihm ein sicheres, wohlbehütetes Leben zu ermöglichen. Sie ahnt nicht, dass sie Pierrot damit auf lange Sicht schadet. Denn Beatrix ist die Haushälterin auf Berghof, Adolf Hitlers Landhaus am Obersalzberg. Um Pierrot zu schützen, heißt er ab sofort Pieter und darf kein Wort über seine französische Herkunft oder seinen jüdischen Freund verlieren. Bleibt sein früheres Leben zunächst nur ein Geheimnis, leugnet Pieter dieses bald gänzlich und verbannt jegliche Erinnerungen daran. Durch Hitlers Gesellschaft wird Pieter schließlich nicht nur zu einem Nationalsozialisten par excellence, sondern auch zu einem Jungen, der in seiner blinden Verehrung kaltblütig alle verrät, die ihm jemals etwas bedeutet haben. Diese Verwandlung als Leserin zu verfolgen, verursacht Bauchschmerzen: Man muss ohnmächtig ansehen, wie aus dem liebenswürdigen, siebenjährigen Pierrot, der immer wieder gemobbt wurde, ein herzloser und skrupelloser Jugendlicher wird, der nach Macht lechzt und Gefallen daran findet, andere zu erniedrigen und herumzukommandieren. Pierrot und Pieter – ein und derselbe Mensch und doch zwei völlig verschieden Leben.
Obwohl man aus heutiger Sicht mit dem Wissen über den Holocaust und die Macht der Propaganda ahnt, wie sich Pieters Werdegang gestalten wird und in welches Verderben er rennt, hofft man doch, dass seine einstige Freundschaft zu Anshel ihn rechtzeitig wachrüttelt. Mit jeder weiteren Seite, mit jeder weiteren Herzlosigkeit Pieters leide ich daher mehr; innerlich schreie ich, um Pieter zu erreichen, ihn vor Schlimmeren zu bewahren – was natürlich sinnlos ist. Doch ich kann nicht anders, ich bin in Pierrots/Pieters Schicksal hineingezogen und als ich das Buch nach der allerletzten Seite zuklappe, bleibe ich geistig in einer Art Blase, kann mich nicht von dieser Geschichte lösen und weiß, dass John Boyne mit „The Boy at the Top of the Mountain“ ein kostbares Buch geschaffen hat, das ewig einen besonderen Platz in meinem Leserherz und meinem Regal haben wird.
Fazit:
Ein ergreifender Roman über die Macht der Suggestion, über Selbstverrat und Schuld und ein sensibilisierendes Plädoyer gegen das Vergessen.
„‚Don’t ever pretend that you didn’t know what was going on here. […] Just don’t ever tell yourself that you didn’t know.‘ […] ‚That would be the worst crime of all.'“ (S. 197 f.)
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