Es hat lange gedauert, sehr lange, aber nun liegt der erste Teil von Orwells Dystopie hinter mir. Die lange Lesezeit ist jedoch nicht der Lektüre geschuldet – denn die ist großartig – sondern meinem Konzentrationsmangel. Daher habe ich auch ein schlechtes Gewissen, euch erst jetzt mit Eindrücken versorgen zu können, während Mitleserin Miss Booleana bereits das gesamte Buch gelesen hat und auf ihrem Blog ausgiebig von der Lektüre schwärmte. Ein kleiner Trost ist mir dabei aber, dass unsere Bloggerkollegin Svea von Läsglädje in den vergangenen Wochen ebenfalls nicht zum Lesen kam. Doch genug der Jammerei – es ist an der Zeit, euch von meinem ersten Ausflug in diese albtraumhafte Welt zu berichten, die George Orwell konstruiert prognostiziert hat …
Vorab: Orwells „Nineteen Eighty-Four“ (oder einfach nur „1984“) ist knallhart; es ist kalt und schonungslos und erwischt uns Leser(innen), die in einem Land und einer Zeit der Freiheit aufgewachsen sind, mit einer Enge und Grausamkeit, die das Gefühl gibt, als würde einem die Luft aus den Lungen gesaugt werden! Bereits auf der ersten Seite prangt der legendäre Satz des Klassikers, der – genau wie Orwells Romantitel – zu einem Sinnbild der Totalüberwachung und staatlichen Totalkontrolle des Denkens und Handelns jedes Einzelnen geworden ist:
Und schnell wird beim Lesen des Romans klar, dass Orwells Zukunftsszenario keines ist, das man jemals erleben möchte. Mündige Bürger darf es nicht geben, selbst der Gesichtsausdruck und das Verbringen der Freizeit wird bis ins Detail beobachtet und interpretiert – ein falscher Blick, ein kurzes Zögern und du kannst ausgelöscht werden; vermisst wirst du nicht, da es dich laut Schriftstücken, Meldungen und permanenter Gehirnwäschen (z.B. durch „2-Minuten-des-Hasses-Videos“) offiziell nie gegeben hat. Liebe und Sex, der nicht der reinen Fortpflanzung dient, sind nicht nur unerwünscht, sondern gar verboten. Das einzige Gefühl, das gestattet ist, ist der Hass auf den jeweils aktuellen Staatsfeind. Die Ministerien, u. a. für „Liebe“ und „Wahrheit“, dienen daher genau dem Gegenteil dessen, was ihr Name suggeriert. Was Orwell allein im ersten Drittel seiner Dystopie schildert, ist entsetzlich, beängstigend und macht wütend – mich wühlte diese abstoßend grausame, brutale und einschränkende Welt so sehr auf, dass ich anfangs nie mehr als 10 oder 15 Seiten am Stück lesen konnte …
Aber Orwells Zukunftszenario ist nicht einfach nur erschreckend, sondern auch erschreckend real(istisch)! Denn die Lebenswirklichkeit, die Orwell hier in den 1940er Jahren für die Zukunft warnend prognostizierte, weist durchaus so manche Parallelen zu gegenwärtigen Entwicklungen auf – und zwar nicht nur zu Diktaturen wie in Nordkorea oder zur Spionage durch BND und NSA oder vermeintlichen Anti-Terror-Maßnahmen, die jeden Bürger unter Generalverdacht stellen, sondern auch zu allgemeinen technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen weltweit. Denn wie die Erfolge von AfD, Pegida, Trump oder das Ergebnis des Referendums zum Ausstieg Großbritanniens aus der EU zeigen, ist ein Großteil der Menschheit heute noch genauso anfällig für Propaganda und Hetze und damit genauso leicht manipulierbar wie die Menschen, die einst Hitler folgten. Trotz fächerübergreifender Behandlung der Geschehnisse in den 1930ern und ’40ern, die letztlich auch Orwells „1984“ und „Animal Farm“ beeinflussten, hat ein Teil der Menschheit also nichts aus der Geschichte gelernt. Und genau deshalb hat „1984“ bis heute nichts an seiner Aktualität und Relevanz verloren, sondern ist sogar so aktuell wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Das alles nützt aber nur so lange, wie sich niemand an die Wahrheit erinnert. Darum wird Weltliteratur umgeschrieben und die Weltgeschichte täglich neu erfunden. Alles wird kontinuierlich neuerzählt und überarbeitet, sodass es immer den aktuellen Zielen des BIG BROTHER entspricht. Was heute als Wahrheit gilt, ist morgen eine Lüge, nur um übermorgen wieder als Wahrheit verkauft zu werden. Wer soll da dauerhaft noch durchblicken und wissen, wer nun wirklich Feind oder Freund ist und was real ist? Wer wie Winston noch ein paar Jahre in der alten Zeit vor BIG BROTHER aufwuchs, weiß irgendwann nicht mehr, was er wirklich erlebt hat. Sind Erinnerungen wirklich Erinnerungen oder nur nachhaltig eingetrichterte Lügen?
Unvorstellbar, was dies mit der Psyche eines Menschen machen muss. Und doch: Außer Winston scheint es niemanden zu geben, der sich darüber auch nur ansatzweise Gedanken macht.
Winston, der nun begonnen hat, selbstständig zu denken und Dinge zu hinterfragen, sucht nach einem Weg, nach der Wahrheit und einem Ausbruch. Doch allein ist das nicht möglich und sowieso der sichere Tod. Für eine wirkliche Veränderung muss das Volk aktiv werden und sich widersetzen, doch das scheint unmöglich, denn:
Alle Beiträge zum gemeinsamen Lesen von „Nineteen Eighty-Four“:
♦ Ankündigung auf Phantásienreisen:
#WinstonsDiary – Läsglädje, Miss Booleana & Phantásienreisen lesen „1984“
♦ Erster Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „1984“ #WinstonsDiary (I)
♦ Zweiter Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „1984“ #WinstonsDiary (II)
♦ Rezension des gesamten Romans bei Miss Booleana: ausgelesen: George Orwell „1984“ (engl. Ausgabe)
Immer auf dem neusten Stand bleibt ihr via Twitter mit dem Hashtag #WinstonsDiary.
Das deckt sich ja regelrecht wie wir das Buch empfunden haben. Und du hast recht … gerade in Anbetracht des politischen Wahnsinns der da draußen vor sich geht, hat das Buch umso mehr Relevanz.
Krass, dass du maximal 10-15 Seiten lesen kannst – es scheint dich noch mehr mitzunehmen als mich. Hattest du es dir so vorgestellt? Und hast du Erwartungen an Winston bzw. an das Buch?
Ja, anfangs hat mich das Buch wirklich sehr aufgewühlt bzw. wütend gemacht. Dass das Buch seinen Ruf ja irgendwie gerecht werden muss, damit hab ich gerechnet, aber ich hatte nicht erwartet, dass Orwell schon auf den ersten 50 Seiten mit so vielen krassen Horrormaßnahmen aufwartet. Ich dachte, der Leser erliest sich den Alltag und die Schaurigkeiten häppchenweise – und dann kam die geballte Ladung mit allem, was man als (normaler freiheitsliebender) Mensch allgemein so fürchtet. Mich hat auch erschrocken, wie vieles ich aus meinem medienpädagogischen und kommunikationswissenschaftlichen Studium und der Praxis wiedererkannt habe, z.B. was die Sprachentwicklung und die Propaganda betrifft – irgendwie gruselig, dass all die Kommunikationsmethoden und Stilmittel, die Orwell aufgreift, heute unverändert auf die gleiche Weise von Terroristen, Diktatoren und Populisten genutzt werden und noch immer die gleiche Wirkung bzw. so viel „Erfolg“ erzielen :-/
Von daher hat Orwell hinsichtlich seines dystopischen Settings meine Erwartungen schon einmal weit übertroffen und nun lasse ich alles einfach auf mich zukommen, rechne mit nichts mehr (jedes Mal, wenn ich dachte, es könnte nicht noch schlimmer werden, knallte Orwell die nächste Lebenseinschränkung und Gefahr raus).
An Winston hatte ich hingegen gar keine Erwartungen. Aufgrund der Bedeutung von Orwells Buch bin ich von Anfang davon ausgegangen, dass es ein Happy End nicht geben wird – deine Rezension hat mich dahingehend bestätigt. Und an Winstons Stelle möchte ich auch nicht sein. Aufgrund dieser Totalüberwachung (selbst auf dem Klo!) kann ich auch ganz schwer abschätzen, wie im Roman eine wirkliche Veränderung einsetzen sollte oder wie Winston wohl handeln könnte. Du schienst ja aber von ihm und von Julia enttäuscht worden zu sein – wie waren denn deine Erwartungen/Vorstellungen im Vorfeld?