Rund 100 Seiten von „Gehe hin, stelle einen Wächter“ liegen hinter mir; Mitleserin Steffi alias Miss Booleana ist sogar noch weiter voraus geeilt – Zeit also für einen kleinen Zwischenbericht.
Wie fühlt es sich an, wieder in Maycomb zu sein – nun, da Scout kein Kind mehr ist und von allen mit ihrem richtigen Namen Jean Louise angeredet wird? Nun, für mich gleicht es weniger einer Heimkehr in die vertraute Welt. Zwar hat sich in Maycomb nicht viel getan – die Leute sind weiterhin zu konservativ und oberflächlich und die wenigen Veränderungen, die der Ort vor allem durch die vom Krieg Heimgekehrten erfährt, werden abfällig belächelt und bemängelt. Wie kann man auch Häusern einen frischen, farbenfrohen Anstrich verpassen oder den Straßen offizielle Namen geben? Tss.
Alle sind miteinander verwandt,Veränderungen& trinken in Gesellschaft verpönt,Alkohol am Steuer aber okay. Gruselig. #ZurückNachMaycomb
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 2. April 2016
Auch das „Personal“ in Harper Lees Welt hat sich wenig verändert. Tante Alexandra wohnt wieder bei Atticus und hält an ihrem rückständigen, verqueeren Weltbild fest …
The World according to aunt Alexandra ;)#ZurückNachMaycomb #HarperLee pic.twitter.com/PLBvQHb8bH
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 28. März 2016
Calpurnia ist weiterhin die gute Seele des Hauses und Atticus trotz seines fortgeschrittenen Alters und gesundheitlicher Probleme für so manche Weisheit zu haben.
Atticus über Krankheit: „Das einzige Gegenmittel ist, sich nicht davon besiegen zu lassen.“ Weise Worte. #ZurückNachMaycomb
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 26. März 2016
Um als Anwalt Erfolg zu haben,muss man lt.Atticus die Bibel&Shakespeare gelesen haben.Klingt zumindest spannender als §. #ZurückNachMaycomb
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 28. März 2016
In der Tat ist mir Atticus in „Gehe hin, stelle einen Wächter“ sogar sympathischer als in „To Kill a Mockingbird“, in dem er durchweg perfekt, überidealisiert und dadurch fast unnahbar war. Jetzt ist Atticus endlich nicht der unfehlbare Ritter in der glänzenden Rüstung.
Mit Scout werde ich dagegen auch in diesem Roman nicht so richtig warm. In mancherlei Hinsicht ist sie weiterhin der burschikose, aufgeschlossene Mensch, dann wiederum verschließt auch sie sich vor so mancher Neuerung. So stoßen selbst bei ihr die optischen Veränderungen Maycombs auf Missgefallen, allerdings nicht, weil Scout diese hässlich findet, sondern aufgrund von „‚Konservative[r] Ablehnung von Veränderung, mehr nicht'“ (S. 56). Hinzu kommt, dass Scout ziemlich zynisch geworden ist, was bei manchen Menschen zwar durchaus sympathisch wirken kann, bei ihr aber einfach nur wie eine Abwehrhaltung gegen alles und jeden erscheint.
Ein sehr lieb gewonnener Charakter aus „To Kill a Mockingbird“ fehlt jedoch in dieser Geschichte. Und sein Fehlen erwähnt Harper Lee ganz beiläufig in einem Satz zwischen lauter alltäglichen, banalen Dingen. Vor dem Hintergrund, dass „Go Set a Watchman“ vor „To Kill a Mockingbird“ geschrieben wurde, wäre das wohl nicht weiter tragisch, doch wenn man „To Kill a Mockingbird“ kennt, ist diese nebensächliche Abhandlung eines so bedeutenden Schicksals irritierend und sie hat mich als Leserin sehr beschäftigt.
@MissBooleana Shocking News auf S.20! ? #ZurückNachMaycomb #GeheHinStelleEinenWächter
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 26. März 2016
Große Enthüllung über das Ableben eines liebgewonnen Charakters. In einem Satz. Derb. S.20 #GeheHinStelleEinenWächter #ZurückNachMaycomb
— MissBooleana (@MissBooleana) 27. März 2016
Ansonsten konnte „Gehe hin, stelle einen Wächter“ auf den ersten 100 Seiten wenig Inhalt bieten, wenn gleich ich ja auch den Auftakt in „To Kill a Mockingbird“ eher wenig spektakulär fand. Doch während „To Kill a Mockingbird“ trotz des simplen Einstiegs immer voller zeitloser Gesellschaftsportraits und Humor steckte, kommt „Gehe hin, stelle einen Wächter“ bislang nicht über Banalitäten hinaus.
Zwischenstand: ich finde #GeheHinStelleEinenWächter bis zu S.100 ein bisschen … belanglos. Und uninteressant. Leider! #ZurückNachMaycomb
— MissBooleana (@MissBooleana) 1. April 2016
Das Buch lieferte zwar durchaus einen amüsanten Start mit Scouts Erlebnissen in Flugzeug und Zug …
Piloten, die Flugzeuge durch Tornados steuern…Arme Scout! #ZurückNachMaycomb #HarperLee
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 26. März 2016
Scout gefangen zwischen Klappbett und Wand – GEHE HIN, STELLE EINEN WÄCHTER liest sich zu Beginn fast wie eine Komödie. #ZurückNachMaycomb
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 26. März 2016
… Doch verläuft sich die Geschichte bisher zu sehr in Scouts Beziehung zu einem Mann namens Henry, den sie zwar schon seit ihrer Kindheit kennt, der aber die Sommerferien – in denen Dill kam – immer außerhalb Maycombs verbrachte und dadurch wohl auch in „To Kill a Mockingbird“ gar nicht erst von Harper Lee aufgegriffen wurde (oder später von Lektoren gestrichen wurde?).
Ich, die auf Liebesgeschichten in Büchern weitestgehend verzichten kann, bin einerseits davon gelangweilt, wie viel Raum der Beziehungsalltag im Roman einnimmt, und andererseits frustriert davon, wie Scout mit Henry umgeht. Er tut alles für sie, nimmt sogar hin, dass sie ihn in Fragen einer gemeinsamen Zukunft ständig vor den Kopf stößt. Und sie? Sie liebt ihn eigentlich, will sich und ihm das aber nicht recht eingestehen und faselt etwas davon, dass sie sich nicht festlegen wolle und dass es doch noch andere Männer gebe, von denen einer sie womöglich glücklicher machen würde als Henry. Kurz: Scout steht sich selbst im Weg und – da geh ich (leider) ganz unobjektiv an die Lektüre heran – so etwas geht mir bei Menschen grundsätzlich irgendwann auf die Nerven.
#ZurückNachMaycomb pic.twitter.com/JNpq7RmHwW
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 26. März 2016
Könnten wir dann also bitte endlich zu etwas mehr Tiefgang in der Geschichte übergehen? Das Potenzial wäre auf jeden Fall vorhanden. Ich denke da zum Beispiel an Jem, aber auch daran, dass Atticus mit Henry einen jungen Anwalt um sich hat und dass rund um diese beiden Anwälte ein spannender Plot im Zusammenhang mit Fragen der Ethik, Moral und Gerechtigkeit entwickelt werden könnte. Ob da wohl noch etwas kommt?
Abgesehen von diesen inhaltlichen Aspekten stört sowohl Steffi als auch mich die Übersetzung ins Deutsche. Denn von dem typischen Südstaaten-Slang fehlt jede Spur!
@MissBooleana Lost in Translation ? #ZurückNachMaycomb
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 1. April 2016
Slang in Büchern trägt für mich immer viel dazu bei, wie ich Charaktere und ihre Umwelt wahrnehme und gerade der Südstaaten-Slang hat etwas Warmes, Geborgenes, Lockeres, aber zugleich auch Ausdrucksstarkes an sich, der vor allem zu Calpurnia und den Kids hervorragend passte und in „To Kill a Mockingbird“ sofort eine Vertrautheit weckte. Scout und die anderen nun in Hochdeutsch sprechen zu lesen, ist ziemlich ernüchternd, wirkt sehr unterkühlt und durchschnittlich. Insbesondere Scouts wilde Lebendigkeit und toughe Art sind dadurch verloren gegangen. Somit hat „Gehe hin, stelle einen Wächter“ mir wieder einmal bewiesen, dass man Bücher, die in den Südstaaten der USA spielen, am besten auf Englisch liest, denn bislang ist mir noch keine deutsche Übersetzung eines Buches untergekommen, in der auch nur ansatzweise versucht wurde, den Südstaaten-Slang zu übertragen. Für die aktuelle Lektüre muss ich diese linguistische Verstümmelung leider hinnehmen, aber falls ihr noch Harper Lees „Go Set a Watchman“ oder „To Kill a Mockingbird“ lesen möchtet, tut es bitte auf Englisch!
Alle Beiträge zum gemeinsamen Lesen von „Gehe hin, stelle einen Wächter“:
♦Ankündigung auf Phantásienreisen: #ZurückNachMaycomb – Miss Booleana und Phantásienreisen lesen „Gehe hin, stelle einen Wächter“
♦ Erster Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „Gehe hin, stelle einen Wächter“ #ZurückNachMaycomb (I)
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Doch, da kommt schon noch mehr… aber ob dir das gefällt, ist eine andere Frage! Es wird schwierig bleiben (es ist ja auch ein ungeschliffener Roman-Entwurf!), und ohne Südstaaten-Dialekt kann ich mir das nur noch farbloser vorstellen. Aber da musst du jetzt durch, um eine Meinung zu bekommen!
Übrigens war ich beim ’nebensächlichen‘ Tod der gewissen Figur völlig verstört und hätte fast abgebrochen. Stell dir vor: Wäre der Wächter veröffentlicht worden, hätte es diese Figur wohl nie wirklich gegeben. Nur als Randnotiz. ?
Deine Worte machen nicht gerade zuversichtlich, aber ich bin trotzdem gespannt. Wer weiß, vielleicht kriegt mich das Buch ja irgendwann doch noch und sei es nur für einen kurzen Zeitraum …
Grundsätzlich merke ich, dass ich das Buch anders lese, als wenn es eine „herkömmliche“ Fortsetzung wäre. Gerade die „Todesnachricht“ ist so ein Fall, bei dem ich mich frage, wie relevant mir dieser Schicksalsschlag für die Maycomber vorgekommen wäre, wenn diese Person mir als Leserin nicht näher bekannt gewesen wäre. Ich vermute, dass es noch einige Stellen geben wird, in denen ich mich einer Bewertung auf zwei Wegen annähern muss.
Und deine Randnotiz spielt da keine unwichtige Rolle! Für mich war diese Person einer der wichtigsten Charaktere und einer von denen, an dem man die meiste Weiterentwicklung verfolgen konnte. Abgesehen davon hatte ich diese Person auch einfach sehr ins Herz geschlossen und gehofft, dieses Leben weiterverfolgen zu können. Nun regst du mich zum Nachdenken an, wie wohl „To Kill a Mockingbird“ ohne diesen Charakter gewesen wäre – ich muss gestehen, dass ich mir das überhaupt nicht vorstellen kann.
Das Gefühl, dass es sich nicht so recht wie zuhause anfühlt, wird sich wohl noch verstärken. Aber auf jeden Fall brisanter werden und ich bin gespannt was du dann denkst und wie du das Buch dann empfindest. Bis hierhin denken sich unsere Empfindungen auf jeden Fall 1:1. Wobei ich Scouts Gefühlschaos irgendwo verstehen kann. Ich mag es nicht, aber ich kenne ähnliches Gefühlsdurcheinander. Nur hinterlässt das hier einen bitteren Beigeschmack und wirkt so leblos und lieblos. V.A. wurmt mich, dass ich mich aaabsolut nicht erinnern kann, ob Henry schon im Mockingbird erwähnt wurde oder nich? Naja. Ich bin auch kein großer Fan von Liebesgeschichten in Büchern. :(
Aber es macht Spaß unsere Gedanken abzugleichen und auszutauschen. :)
Ich bin ja schon sehr neugierig auf deinen zweiten Zwischenbericht und werde mich nachher auch wieder ans Buch setzen. Ich bin unglaublich zwiegespalten, weil es immer wieder kleine Stellen gibt, bei denen ich denke: „Ja, jetzt passiert da was“ und dann folgen wieder unzählige Seiten voller Banalitäten. Du und Ute macht mir nicht viel Mut, dass sich das ändert, aber ich hoffe zumindest auf ein paar kleine gelungene Szenen.
Tja, was Scouts Gefühlschaos angeht, bist du mir wirklich voraus :D Ich kenn so etwas zwar aus dem Freundeskreis, aber eher aus Teeniezeiten und ich selbst war nie in einer ähnlichen Situation, daher fällt es mir schwer, mich in eine Mittzwanzigerin mit derartigem Gefühlschaos hineinzuversetzen. Ich könnte ja noch verstehen, wenn sie Henry zwar als Traum der Frauen sieht, aber nichts empfindet, aber dem ist ja nicht so. Aber vielleicht ist das so etwas wie Selbstschutz vorm Verletztwerden… Wer weiß. Vielleicht hätte hier Dr. Sommer weiterhelfen können ;)
Und Henry… Ich kann mich nicht erinnern, ihm im Mockingbird begegnet zu sein. Aber vielleicht wurde er kurz bei irgendeinem Schulevent oder Scouts ersten Schultagen mal irgendwo kurz erwähnt?! Vielleicht sollte ich mal danach googlen, denn so ganz passt seine Geschichte noch nicht zu der uns bekannten Kindheit in Maycomb…
Der zweite Zwischenbericht soll irgendwann diese Woche kommen … mal sehen wie der Zeitplan mitspielt. Komme gerade schwer mit allem hinterher. Seufzzz. !Aber! ich habs ja schon bei Twitter angeteasert: es kommen Szenen, die für Diskussionsstoff sorgen und die spannend sind. Aber die Zwischenspiele mit den Banalitäten bleiben auch. Es wird auf jeden Fall insgesamt brisanter und ich bin schon gespannt mit dir über das Fazit und den Ausgang des ganzen zu diskutieren … das wird was, sage ich dir …
Ja, Gefühlschaos auf die Teenie-Art, aber es gibt auch erwachsenes Gefühlschaos, bei dem man immer denkt, dass das doch alles banal ist und man wüsste wie man sich verhält, aber dann weiß man es letztendlich doch nicht, wenn man selber in der Zwickmühle ist. Beispielsweise: was, wenn man in einer glücklichen Beziehung ist und seinen Partner auch liebt, aber sich auch noch in jemand anders verliebt? Klingt irre banal. Irre und banal. Aber wenns dann passiert … autsch, Zwickmühle. Oder sich in einen Arbeitskollegen verlieben – is auch nicht so klare Sache wie viele sagen. Da gibts schon genug Potential für Gefühlschaos in der Welt. Sogar in den banalen Geschichten. Obwohl ich sagen muss, dass ich bei Scout ‚einfach nur Unsicherheit‘ sehe. Die Zwickmühle ist nicht mal besonders groß anfangs und sie will trotzdem nicht so wirklich. Bei Dill war sie sich so sicher, dass sie mal heiraten. Und jetzt grübelt sie? Ist etwas inkonsequenter geworden, finde ich.
Dr Sommer hätte auf jeden Fall seine Freude daran …
ich hab eben nochmal gegoogelt. Andere Webseiten sind ich sicher, dass Henry nicht bei To Kill A Mockingbird erwähnt wurden. Hmpf.