Ach, Pinocchio, wie sehr hatte ich mich auf unsere gemeinsamen Abenteuer gefreut – und wurde dann so enttäuscht. All die Verfilmungen deines Lebens und die literarischen Querverweise (z.B. in John Boynes „Der Junge mit dem Herz aus Holz“) zeichneten mir das Bild einer liebenswerten Marionette/ eines wunderbaren Jungen und ich schloss dich in mein Herz. Nun, nach vielen Jahren, habe ich den „echten“ Pinocchio kennengelernt und jegliche Sympathie, die ich für den kleinen Jungen aus Holz hegte, verpuffte. Denn Pinocchio, du bist einfach anstrengend und nervenaufreibend, ja, regelrecht unausstehlich finde ich dich. Wie du mit deinem Vater Geppetto umspringst, ist rücksichtslos, herzlos und arrogant. Und immerzu denkst du nur an dich selbst und generell sowieso nur von 12 bis Mittag. Dein am Hungertuch nagender Vater gibt seinen einzigen warmen Mantel her, um dir davon eine Fibel zu besorgen, damit du in der Schule lernen kannst. Und was tust du? Du verkaufst sie noch vor dem ersten Schulbesuch, nur um ein Puppentheater zu besuchen – was dich noch dazu fast das Leben gekostet hätte! Kaum hast du die Strafe für einen Fehler erhalten und bist einem Schlamassel entkommen, fällst du sofort auf die nächsten zwielichtigen Typen rein. Und das wieder und wieder! Das ist mehr als nur naiv, das ist schon grenzenlos dumm! Da hilft es auch nicht, wenn du deine Fehler im Nachhinein bereust und dich auf unerträgliche, penetrante Weise selbst bemitleidest. Was nützen all die Vorwürfe und das schlechte Gewissen, wenn du all das fünf Minuten später schon wieder vergessen hast und den idiotischsten Lügen glaubst, die dir Typen auftischen, die sich dir gegenüber längst als nicht vertrauenswürdig erwiesen haben?! Ja, jeder macht einmal Fehler und begeht Dummheiten. Du, Pinocchio, übertreibst es damit aber gewaltig. So konnte ich nicht anders, als mich während unserer gemeinsamen Reise ständig über deine anhaltende Leichtgläubigkeit, Kurzsichtigkeit und deinen Egoismus aufzuregen. Sei froh, dass du so großherzige Beschützer wie die Fee und einen dich bedingungslos lieben Vater hast, die dir all diese Dummheiten immer wieder verzeihen! Meine Geduld hast du jedenfalls schnell überstrapaziert und ich bin froh, dass unsere gemeinsame Zeit nun hinter uns liegt!
Doch es bist nicht nur, Pinocchio, der mir unser Abenteuer so beschwerlich machte – es ist auch dein Schöpfer Carlo Collodi, der deine Geschichte auf viel zu plakativ-erzieherische Weise erzählt. Noch nie habe ich ein Buch in der Hand gehalten, bei dem der mahnende Zeigefinger so oft, so aufdringlich und offensichtlich erhoben war wie in deiner Geschichte. Eigentlich mag ich es, wenn man aus einer Geschichte etwas lernen kann, wenn sie Werte vermittelt. Doch dieses ständige Belehren, dass Kinder fleißig, gehorsam, brav und ehrlich sein müssen und in der Schule gut aufpassen müssen, weil ihnen sonst Schlimmes droht und sie als Esel enden, das nimmt zu oft überhand und ist selbst mir als Erwachsene und Pädagogin schnell auf die Nerven gegangen. Es ist ermüdend, es ist penetrant und ich frage mich: Wenn ich dieser Belehrungen so schnell überdrüssig bin, wie schnell muss dann erst ein Kind, das in erster Linie gut von der Geschichte unterhalten werden möchte, gelangweilt und genervt sein?
Ach, Pinocchio, du und dein Schöpfer haben es mir wahrlich schwer gemacht. Und der einzige Grund, weshalb ich unser gemeinsames Abenteuer nicht abgebrochen habe, ist Stefan Kaminski, der deine Geschichte auf so grandiose Weise zum Leben erweckt! Er liest mit so viel Variation in Tempi und Stimme, dass ich manchmal kaum glauben konnte, dass diese Vielzahl an unterschiedlichen Stimmen von nur einer Person kommen kann – beim Lauschen entsteht schnell der (falsche) Eindruck, es handle sich um ein Hörspiel mit einem ganzen Ensemble an Sprechern. Stefan Kaminski hat also eine wahrliche Meisterleistung vollbracht. Doch auch der beste Sprecher kann eine ansonsten enttäuschende Geschichte nicht retten und so behalte ich mein Abenteuer mit dir, Pinocchio, leider in keiner guten Erinnerung.
Fazit:
Ich habe einen neuen Lieblingshörbuchsprecher gewonnen, aber leider einen der Kindheitshelden verloren.
Geplauder