Vor mehr als zehn Jahren begeisterte Sue Monk Kidd mit ihrem Südstaaten-Roman „The Secret Life of Bees“/ „Die Bienenhüterin“ die Leser diesseits und jenseits des Atlantiks. Mit „Die Erfindung der Flügel“ liegt nun ein weiteres Buch der US-Autorin vor, in welchem sie sich den gesellschaftlichen Unterschieden zwischen der schwarzen und weißen US-Bevölkerung widmet. Im Fokus der Geschichte stehen Hetty „Handful“ Grimké und Sarah Grimké, denen wir erstmals im Alter von 10 bzw. 11 Jahren begegnen. Sarah ist die Tochter eines hochangesehenen Juristen und Plantagenbesitzers in Charleston, Hetty eine Sklavin der Familie und das „Geschenk“ der Eltern zu Sarahs 11. Geburtstag!

Sarah, die bereits als Kind eine Gegnerin der Sklaverei und das schwarze Schaf der Familie Grimké ist, versucht, sich gegen dieses groteske Geschenk zu wehren. Sie lehnt Hetty ab, erzürnt damit jedoch nur ihre Mutter, die dies nicht akzeptiert und Sarah auf ihr Zimmer schickt. Daher greift Sarah zu einem juristischen Mittel: Da Hetty nun als ihr Eigentum gilt, ist es Sarah von Rechts wegen gestattet, ihr die Freiheit zu schenken. Also verfasst Sarah eine entsprechende Erklärung – die am nächsten Morgen zerrissen vor ihrer Zimmertür liegt. Enttäuscht gibt die Elfjährige den Kampf gegen ihre konservative Familie auf und versucht stattdessen, Hetty das Leben (sofern es sich als solches bezeichnen lässt) so erträglich wie möglich zu machen. Heimlich bringt sie ihr das Lesen bei und zwischen den Mädchen entwickelt sich ein fast freundschaftliches Verhältnis. Natürlich kann das jedoch nicht ewig gut gehen. Eines Tages kommen die Grimkés hinter Sarahs und Hettys Leseunterricht und ergreifen entsprechende Maßnahmen, um dieses „unsittliche“ Verhalten zu unterbinden: Schreib- und Lesematerialien werden aus Sarahs Zimmer entfernt und fortan ist der wissensdurstigen, ambitionierten Sarah der Zutritt zur geliebten Bibliothek ihres Vaters verboten. Bald darauf erwartet das Mädchen der nächste Schlag: Als sie ihrer Familie eröffnet, dass sie Anwältin werden möchte, erntet sie dafür Spott und Wut. Ihr Vater sowie ihr Bruder Thomas, die einst verkündeten, dass Sarah den wohl besten Anwalt abgeben würde, wenn sie ein Mann wäre, lachen nun über diesen Traum des Mädchens – undenkbar, dass eine Frau in der Rechtswissenschaft tätig ist! Dies ist der Moment, in dem Sarah endgültig resigniert – Hettys Traum von Freiheit und Sarahs Traum, mehr als nur Ehefrau und Mutter zu werden, erscheinen unerfüllbar. Beide müssen sich in das ihnen vorgeschriebene Schicksal fügen, beider Leben liegen in Fesseln.

„Sie war gefangen, so wie ich, wenn auch von ihren geistigen Schranken und den geistigen Schranken all der Menschen rings um sie, und nicht vom Gesetz. Mr Vesey hatte in der afrikanischen Kirche immer wieder gesagt: Gebt acht, denn ihr könnt zweifach versklavt werden, einmal mit eurem Körper, und einmal mit eurem Geist.
Das versuchte ich ihr zu erklären. Ich sagte: ‚Mein Körper mag ein Sklave sein, aber nicht mein Geist. Bei dir ist es umgekehrt.'“ (S. 237)

In den folgenden Jahren gelingt es den beiden Mädchen nicht, die einstige Vertrautheit aufrecht zu erhalten. Hetty tritt in die Fußstapfen ihrer Mutter und wird Näherin der Grimkés – aufgrund ihres großen Talents genießen Hetty und ihre Mutter dabei auch ein etwas höheres Ansehen als die anderen Sklaven. Sarah dagegen geht gänzlich in ihrer Rolle als Patin ihrer kleinen Schwester Angelina auf, der sie vermittelt, dass alle Menschen gleich sind und gleiche Rechte genießen sollten, aber auch, dass Angelina stets für ihre Ziele einstehen und sich im Gegensatz zu ihrer Schwester nicht dem gesellschaftlichen Diktat fügen soll. Doch obwohl Hetty und Sarah nicht mehr viel verbindet, hat beide die kurze Freundschaft zueinander auf ewig geprägt und Sarah wird eines Tages als eine Vorreiterin im Kampf für die Gleichberechtigung in die Geschichte eingehen – sowohl, was die Gleichberechtigung zwischen Weißen und Farbigen betrifft, als auch hinsichtlich der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Dass bzw. wie Sarah diesen steinigen Weg gemeistert hat, hat mir in Sue Monk Kidds Roman am meisten imponiert. Obwohl „Die Erfindung der Flügel“ abwechselnd aus Sicht von Hetty und Sarah erzählt wird, ist es doch Sarah, deren Geschichte in mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Tatsächlich fußt Sue Monk Kidds Geschichte auf wahren Begebenheiten: In Charleston gab es im 19. Jahrhundert wirklich eine Familie Grimké, deren Töchter Sarah und Angelina die ersten offiziellen Rednerinnen der Anti-Sklaverei-Bewegung und bedeutende Frauenrechtlerinnen waren. Auch dass Sarah als Kind die Sklavin Hetty geschenkt bekam, der sie das Lesen beibrachte, ist historisch belegt. Die echte Hetty verstarb jedoch bereits in jungen Jahren in Folge einer Krankheit. Sue Monk Kidds Roman geht daher der Frage nach, welchen Einfluss Hettys und Sarahs freundschaftliche Verhältnis auf Sarahs spätere Aktivität gehabt haben mochte und schafft mit Hettys fiktiv fortgesetztem Leben zugleich ein Pendant zu Sarahs Lebenswirklichkeit.

„Ein Sklave sollte wie der Heilige Geist sein – man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, aber er schwebt immer eifrig um einen herum.“ (S. 13)

„Die Erfindung der Flügel“ folgt dabei keinem festen Handlungsstrang, konzentriert sich nicht auf einen Schwerpunkt, sondern erweist sich vielmehr als Gesellschaftsportrait. Sue Monk Kidd schildert nicht einfach nur Sarahs und Hettys Leben, sondern eröffnet den Lesern auch, warum selbst einflussreiche Männer, die eigentlich gegen Sklaverei sind, nicht bereit sind, für die Rechte der Schwarzen einzutreten, sie gewährt einen Einblick in den Alltag und die Befreiungsversuche der Sklaven, in das vordiktierte Leben der Frauen, aber auch in die konservative Denkweise, die selbst bei den fortschrittlichsten Gesellschaftskreisen immer wieder zu Tage tritt. Am Ende bleibt der Leser mit dem Wunsch zurück, mehr über die Grimké-Schwestern Sarah und Angelina zu erfahren – praktischerweise liefert Sue Monk Kidd hierfür gleich Lektüreempfehlungen.

Dennoch konnte mich „Die Erfindung der Flügel“ nicht so intensiv in seinen Bann ziehen wie einst „Die Bienenhüterin“. Letzteres war ein Buch, dass mich in sich aufsog und in eine warme, von Honig überzogene Welt entführte; ersteres kommt im Vergleich dazu nüchterner daher, da „Die Erfindung der Flügel“ einen simpleren, weniger atmosphärischen Schreibstil aufweist. Daneben überzeugte mich die Darstellung von Sarahs Mutter nicht gänzlich. Sue Monk Kidd erwähnt sowohl innerhalb der Geschichte als auch in den Anmerkungen, dass Mrs. Grimké für ihre Grausamkeit gegenüber ihren Sklaven bekannt war. In der Tat verhält sich Mrs. Grimké im Roman ihren eigenen Kindern gegenüber kalt und hart und ist wahrlich auch zu ihren Sklaven nicht nett. Doch vergleicht man das im Buch beschriebene Verhalten Mrs. Grimkés mit den Schilderungen des Sklavenalltags in anderen historischen Quellen (z. B. Solomon Northups Biografie), so erscheint Mrs. Grimké doch recht milde. Beispielsweise lässt sie sich von Hettys Mutter des Öfteren leicht um den Finger wickeln und harte körperliche Bestrafungen sind eher eine Ausnahme als die Regel. Dass Sarahs Mutter außerordentlich streng gewesen sein sollte, ist daher nur schwer zu glauben.

Des Weiteren stören ein paar sprachliche Kleinigkeiten. So wurde in der deutschen Übersetzung auf die Punkte nach „Mr.“ und „Mrs.“ verzichtet, die Anreden wurden also an das britische Englisch angepasst, obwohl die Handlung in den USA spielt und das Buch von einer US-Autorin stammt. Des Weiteren mangelt es dem Slang an Kontinuität. Bei Hettys Mutter wird beispielsweise das Wort „nicht“ mal korrekt geschrieben, mal zu einem „nich“ gekürzt; ähnlich verhält es sich mit „ist“/“is“ und anderen Wörtern. Ob das nun auf die Übersetzung durch Astrid Mania zurückzuführen ist oder der Slang bereits im Original nicht einheitlich ist, kann ich an dieser Stelle jedoch nicht beantworten. Zugegeben, das alles sind Feinheiten, doch fielen sie mir während der Lektüre wiederholt auf und trübten so ein wenig den Lesegenuss.

Fazit:

Sue Monk Kidds „Die Erfindung der Flügel“ kann zwar nicht so begeistern wie „Die Bienenhüterin“, liefert aber ein vielschichtiges Portrait der US-amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und errichtet zwei historisch bedeutenden, aber längst vergessenen Frauen ein würdiges Denkmal, das zum Weiterrecherchieren anregt.

Sue Monk Kidd: “Die Erfindung der Flügel”, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Astrid Mania, btb Verlag 2015, ISBN: 978-3-442-75485-4

Für das bereitgestellte Rezensionsexemplar danke ich vorablesen.de und dem btb Verlag.