Das Huhn das vom Fliegen träumteWehmütig blickt Huhn Sprosse immer wieder zu dem Akazienbaum am Rand des Bauernhofes. Für sie ist der Baum – wie der Rest der Welt – unerreichbar, denn als Legehenne ist sie zu einem Dasein im Käfig verdammt. Die Sonnenstrahlen zu genießen, den Wind zu spüren oder einfach nur umherzulaufen – für Sprosse unmöglich. Zu allem Übel rauben Bauer und Bäuerin jeden Tag ihr Ei. Dabei wünscht sich die Henne nichts sehnlicher, als einmal ein Ei auszubrüten und ein Küken zur Welt zu bringen.

Eines Tages gelingt es Sprosse tatsächlich, ihrem Gefängnis zu entkommen. Doch auf dem Bauernhof möchte sie niemand haben, nicht einmal der Hahn und die Glucke. Lediglich die Wildente Streuner hat Mitleid mit der Legehenne. Für Sprosse wird der Erpel zum einzigen Freund, den sie je haben wird. Dennoch bleibt die Henne auf sich allein gestellt und muss zusehen, wie sie in der freien Natur und in ständiger Gefahr durch das Wiesel überlebt.

Eines Tages findet Sprosse ein Nest mit einem Ei. Mutter und Vater sind nirgendwo zu sehen. Also nimmt sich die Henne des Eis an. Ihr Wunsch, einmal ein Ei auszubrüten wird wahr! Obwohl das Ei nicht ihr eigenes ist, entwickelt Sprosse schon bald Muttergefühle und selbst, als sie erfährt, dass sie kein Huhn, sondern eine Ente ausgebrütet hat, behütet sie das Küken und zieht es wie ein leibliches Kind auf. Doch Sprosse kann ihr Mutterglück nur begrenzt genießen, denn die anderen Hühner und Enten stehen der ungewöhnlichen Familie alles andere als aufgeschlossen gegenüber und je älter das Küken wird, desto stärker hinterfragt es seine Identität – und dann ist da ja immer noch das Wiesel, das für Sprosse und ihr Küken eine permanente Bedrohung darstellt …

Sun-Mi Hwangs „Das Huhn, das vom Fliegen träumte“ hat mich mit gemischten Gefühlen zurückgelassen: Auf der einen Seite habe ich die Geschichte sehr genossen, auf der anderen Seite sind da aber auch unerfüllte Erwartungen an dieses so viel gepriesene Buch. Je nachdem, aus welcher Perspektive ich „Das Huhn, das vom Fliegen träumte“ betrachte, fällt mein Urteil unterschiedlich aus. Als Erzählung an sich, als die Geschichte der Legehenne Sprosse, konnte mich das gerade einmal 157 Seiten schmale Büchlein vollends überzeugen. Sprosse erlebt unglaublich viel und entwickelt – angetrieben von ihren mütterlichen Instinkten – immer mehr Mut und Stärke, sodass sie sich allen Widrigkeiten widersetzen kann, wenngleich nicht jedes Erlebnis spurlos an ihr vorübergeht. Besonders ins Herz schloss ich jedoch den Erpel Streuner und Sprosses Entenküken Grünfeder, die beide zwischen zwei Lebenswelten stehen und einen inneren Kampf auszutragen haben. „Das Huhn, das vom Fliegen träumte“ überzeugt zudem durch seinen leisen, unaufgeregten Erzählstil und die aufgegriffenen Themen. In Sprosses Erlebnissen und Umwelt reflektiert sich gekonnt unsere menschliche Gesellschaft, was den Leser über eine große Palette an Themen philosophieren lässt: Patchwork-Familien, Fragen nach der Identität, Ausgrenzung, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Freundschaft, Mütterlichkeit, Adoption, Entscheidungen, Träume und den Glauben und Mut, derer es bedarf, sie zu realisieren. Sun-Mi Hwang lehrt uns in ihrem Buch aber auch, Dinge zu hinterfragen und zeigt anhand des Wiesels, dass nicht alles immer so schwarz-weiß ist, wie es scheint. Das alles liest sich dabei mit einer überraschenden Leichtigkeit, ohne dass dabei Ernsthaftigkeit eingebüßt wird.

Und doch konnte mich „Das Huhn, das vom Fliegen träumte“ nicht so sehr berühren und packen, wie ich es erwartet hatte. Das liegt zum einen daran, dass mir viele Figuren zu stereotyp und einseitig dargestellt werden, zum anderen sind mir die gesellschaftlich relevanten und diskussionswürdigen Themen für eine Fabel, als welche Sun-Mi Hwangs Erzählung ja deklariert wird, zu oberflächlich behandelt. Vieles wird kurz beleuchtet und dann wieder fallen gelassen, wie ein kleiner Schatten, der schnell an einem vorbeihuscht. Für eine Fabel, die immer mit einer oder auch mehreren Botschaften einhergeht, hätte ich mir mehr Tiefgang, eine intensivere, vielschichtigere Auseinandersetzung mit den Themen und damit einhergehend mehr Denkanstöße gewünscht. Somit bleibt „Das Huhn, das vom Fliegen träumte“ für mich zwar eine liebevoll erzählte Geschichte, die für schöne Lesestunden sorgt – mehr jedoch auch nicht.

Fazit:

Die südkoreanische Autorin Sun-Mi Hwang erzählt in „Das Huhn, das vom Fliegen träumte“ auf feinfühlige, ruhige und zugleich leichtfüßige Art eine wunderbare Geschichte über Träume und Zugehörigkeit. Für eine Fabel geht die Geschichte um die Henne Sprosse jedoch zu selten über das Oberflächliche hinaus.

Sun-Mi Hwang: “Das Huhn, das vom Fliegen träumte“, illustriert von Nomoco, aus dem Englischen übersetzt von Simone Jakob, Kein & Aber 2014, ISBN: 978-3-0369-5699-2

Diese Rezension ist auch als Gast-Beitrag auf Lesen macht glücklich erschienen. An dieser Stelle daher ein Dankeschön an MacG für die Bereitstellung des Buches!