Die geheimnisvolle Insel

Mit „20.000 Meilen unter dem Meer“ hat sich Jules Verne regelrecht in mein Herz geschrieben – ich tauchte in der Nautilus in die Tiefe der Ozeane, staunte, träumte und bewunderte die Genialität Kapitän Nemos – trotz dessen Rachefeldzugs und seines Hasses gegen die Menschen. Als ich mir das Hörbuch zu „Die geheimnisvolle Insel“ runterlud, erhoffte ich mir ein ebenso magisches Leseerlebnis. Doch leider hat mich Jules Verne enttäuscht.

Natürlich war ich neugierig, wie die Protagonisten – die geflohenen Gefangenen Cyrus Smith, Nab, Gideon Spilett, Pencroff und Harbert sowie Hund Top – auf der abgeschiedenen, nicht auf Karten verzeichneten Insel zurechtkommen, welche Schwierigkeiten sie erwarten und ob sie die Insel je verlassen würden. Andere Leser schwärmten zuvor auch begeistert von „Die geheimnisvolle Insel“ – doch bei mir verflog die anfängliche Freude auf die Geschichte ziemlich schnell. Nichtsdestotrotz hielt ich durch und lauschte allabendlich dem ungekürzten, rund 22-stündigen Hörbuch, um vorschnelle Urteile zu vermeiden und mir einen Gesamteindruck zu verschaffen. Zum Besseren wandte sich der Roman aber leider nicht.

Grund für meine Enttäuschung war in erster Linie die hohe Vorhersagbarkeit und die Schwierigkeit, mit den Figuren mitzufiebern: Egal, welchen Problemen und Gefahren die Gestrandeten ausgesetzt sind – immer taucht aus heiterem Himmel etwas zur Rettung auf. War ich anfangs noch neugierig, was dahintersteckt, verlor ich alsbald das Interesse daran, da sich auch die Protagonisten kaum Gedanken über die überraschende Hilfe aus dem Nichts machten. Stattdessen wurde ich dessen sogar überdrüssig, da ich merkte, dass nichts jemals eine ernsthafte Bedrohung für die Flüchtlinge darstellen würde und ich mir über sie keinerlei Sorgen machen müsste. Das führt dazu, dass ich keinerlei Zugang zu den Figuren fand, sie und ihr Schicksal mir also schnell gleichgültig waren. Da half es erst recht nicht, dass die Protagonisten recht blass blieben und nahezu perfekt waren. Allen voran sei hier der Ingenieur Cyrus Smith erwähnt: Ob es um die Herstellung von Dynamit geht, um die Erzeugung von Strom, um die Nahrungsversorgung oder darum, etwas zu bauen – Cyris Smith kann und weiß alles. Noch dazu ist er ein nachdenklicher, verantwortungsbewusster, vorausschauender, netter Mensch, der scheinbar keinerlei Fehler aufweist. Diese Vollkommenheit ist nicht nur unrealistisch, sondern langweilte mich durchweg! Ähnlich ging es mir mit dem noch jungen Harbert – war dieser mir anfangs noch recht sympathisch, wurde auch er mir irgendwann viel zu vorbildlich. Cyrus Smiths Diener Nab und der Reporter Gideon Spilett hingegen erschienen mir gänzlich überflüssig. Da Jules Verne diese beiden Charaktere beim Erzählen der Geschichte öfters für längere Zeit vernachlässigte, vergaß ich zwischenzeitlich sogar immer wieder, dass es sie überhaupt gab und fragte mich, warum Verne sie eigentlich in die Geschichte integrierte. Lediglich einer der Gestrandeten konnte dauerhaft meine Sympathien wecken: der Seemann Pencroff. Er war der einzige der Hauptcharaktere, der nicht eindimensional erschien und von jeglicher Vollkommenheit weit entfernt war. Er wusste nicht so viel wie Cyrus Smith und Harbert, träumte ständig davon, endlich wieder Tabak rauchen zu können und interessierte sich bei Pflanzen und Tieren lediglich für ihre Eignung als Nahrungsmittel. Gleichzeitig war er aber für den jungen Harbert wie ein Vater. Damit erschien mir Pencroff als die authentischste, vielschichtigste aller Figuren und wurde für mich zum einzigen Charakter mit deutlichem Wiedererkennungswert. Das wurde bestärkt durch Reinhard Kuhnerts gelungene Interpretation des Seemanns, denn Kuhnert verleiht ihm eine rauere, basslastigere Stimme als den anderen Figuren und macht ihn dadurch noch individueller als die restlichen Gestrandeten.

Sieht man von Pencroff einmal ab, gibt es nur einen Aspekt, der mir in Jules Vernes Roman wirklich gut gefallen hat: Kapitän Nemo! Denn Kapitän Nemo hat sich in seiner Nautilus zu der unbekannten Insel, die die fünf Gestrandeten auf „Lincoln-Insel“ tauften, zurückgezogen. Dabei gibt es jedoch einen deutlichen Continuity-Fehler gegenüber „20.000 Meilen unter dem Meer“: Beide Romane spielen Mitte der 1860er Jahre – in „Die geheimnisvolle Insel“ schreibt Verne jedoch, dass seit den Ereignissen in „20.000 Meilen unter dem Meer“ mehr als ein Jahrzehnt vergangen ist. Nichtsdestrotz habe ich mich über das Wiedersehen mit Nemo gefreut und tatsächlich war die Begegnung das einzige Ereignis in „Die geheimnisvolle Insel“, das ich als spannend empfand. Das lag auch daran, dass Jules Verne in diesem Roman mehr über die Vergangenheit und Beweggründe des Kapitäns verrät. Manche Leser kritisierten dies als „Entzauberung“ des geheimnisvollen Nemo, ich jedoch habe es genossen, mehr über Nemo zu erfahren und für mich hat der Kapitän dadurch nichts von seiner Faszination verloren – im Gegenteil.

Fazit:

Zu berechenbare Entwicklungen, viel zu vollkommene und/ oder einseitige Figuren machen die Lektüre ziemlich dröge. Auch ein Wiedersehen mit Kapitän Nemo sowie Pencroff als einziger interessanter Charakter können die Schwachstellen leider nicht aufwiegen und so bleibt Jules Vernes „Die geheimnisvolle Insel“ eine enttäuschende Lektüre.