Wie hatte ich mich auf dieses Buch gefreut, nachdem ich es im April entdeckte. Die Inhaltsangabe klang vielversprechend und ganz nach meinem Geschmack. Ich hoffte auf einen Roman so atmosphärisch dicht und mit einem Protagonisten ähnlich wie in Mankells „Die italienischen Schuhe“. Als sich die Kritiken zu David Abbotts Debütroman „The Upright Piano Player“ (dt. Titel „Die späte Ernte des Henry Cage“) auch noch vor Lob überschlugen, waren meine Erwartungen hoch und ich musste dieses Buch unbedingt lesen. Der Einstieg in den Roman ist auch wirklich grandios: Henry Cages Enkel Hal wird beerdigt. Der kleine Junge wurde Opfer eines ungewöhnlichen, tragischen Unfalls bzw. Überfalls. Das war dann aber auch schon das Highlight des Buches! Die Geschichte ist zäh und ich habe für die weniger als 300 Seiten unbeschreiblich lange gebraucht, konnte mich nie dazu durchringen, mehr als zehn Seiten am Stück zu lesen. Anfangs wusste ich nicht, woran dies liegen könnte. Doch beim weiteren Verlauf wurde mir das Buch immer unsympathischer und ich fand einen Kritikpunkt nach dem anderen. Den Hype um dieses recht dünne Büchlein, für das Abbott ganze acht Jahre brauchte, kann ich nicht nachvollziehen. Zum einen das große Probleme, dass in der ersten Hälfte des Romans keinerlei bzw. kaum Zusammenhänge erkennbar sind. Ein roter Faden? Fehlanzeige. Erst in der zweiten Hälfte lief manches einigermaßen zusammen. Zudem strotzt der Roman vor unnützen Ereignissen. Es gibt so viele Szenen, die weder die Handlung vorantreiben noch zur Entwicklung der Charakter oder Erklärung dienen. So muss man sich fragen, warum eine nicht mal halbseitige Situation geschildert wird, in der ein Vanfahrer mit einem Taxifahrer aneinandergerät und der pensionierte Henry Cage beide trennt. Eine Nebensächlichkeit, die völlig aus dem Kontext der restlichen Geschichte gerissen ist. Ähnlich sinnlos ist die Affäre Cages mit der fast 30 Jahre jüngeren Maude, die nur wenige Seiten anhält und nichts zur Geschichte beiträgt. Hinzu kommt, dass dieses Verhältnis sehr gezwungen wirkt, als wolle Abbott diese Szene auf Teufel komm raus im Buch haben, egal, ob es passt oder nicht. Das wirkt verzweifelt und ließ mich an Männer in Midlife-Crisis denken, die sich selbst etwas beweisen wollen und die Bestätigung benötigen, dass sie noch Chancen bei Frauen haben. Authentisch wirkt das in Abbotts Roman nicht, sondern nur sehr klischeehaft. Unnützerweise wird Maudes Lebensweg vor und nach der Affäre auch noch recht ausführlich geschildert, obwohl es in keinerlei Zusammenhang zur Geschichte steht. Ihr braucht ein weiteres Beispiel für unnütze Einschübe? In der zweiten Hälfte wird über mehrere Seiten hinweg ein Orson-Welles-Dialog zitiert! Zwar steht dieser im Kontext, jedoch ist die Länge einfach extrem unangebracht. Fünf Zeilen des Dialogs hätten auch ausgereicht!
Als wären die vielen unnützen Ereignisse nicht schlimm genug, ist die Geschichte auch noch sehr unrealistisch. Zu viele Zufälle passieren. So wird Henry Cage in der Silvesternacht kurz nach seiner Pensionierung von einem jungen Mann quasi grundlos zusammengeschlagen. Später beobachtet Cage ein Pärchen. Und es stellt sich – oh Wunder! – heraus, dass es sich um den Mann der Silvesternacht handelt. Dieser fühlt sich angegriffen von Cages Blicken, denkt Henry wäre an seiner Freundin interessiert. Also macht der Mann (der, wie sich später herausstellt, Colin heißt) dem Frührentner Henry Cage das Leben zur Hölle: Cages Haus wird mehrfach Opfer von Vandalismus, er erhält Briefe, die ihn als Perversling ausweisen. Solch eine heftige und vor allem über Monate andauernde Racheaktion wegen einer Nichtigkeit ist wahrlich extrem übertrieben und unglaubwürdig. Als Krönung schickt Colin Henry auch noch Aktfotos seiner Freundin in recht obszöner Pose. Das brachte bei mir das Fass zum Überlaufen und jegliche letzte Hoffnung in das Buch war gestorben. Mal ehrlich: Welcher Mann schickt einem Fremden derartige Fotos der eigenen Freundin?! Abgesehen davon tat mir Colins Freundin in diesem Moment auch leid, da solch ein Vorgehen für mich schon fast eine Art von Vergewaltigung darstellt.
Über die Charaktere kann man im Allgemeinen nur den Kopf schütteln und Unverständnis entwickeln. Henry war erfolgreicher Geschäftsmann in der Werbebranche. Doch fragt man sich, wie er es so weit bringen konnte: Er ist unentschlossen, steht nicht zu seinen Handlungen, gibt ständig klein bei und zu allem Überfluss lässt er sich ohne die kleinste Widerrede aus seiner eigenen Firma rausschmeißen und in die Frührente zwingen. Ein ziemlich bedauernswerter Mann, der nichts mit sich selbst anzufangen weiß. Zu seiner Frau und seinem Sohn hat Henry keinerlei Kontakt mehr, weiß nicht einmal, dass er Großvater ist und hat merkwürdige Angewohnheiten: Er beobachtet Leute, schreibt idiotische Beschwerdebriefe an die Medien. Einer dieser Briefe, in dem er sich über so etwas Belangloses wie den Wetterbericht beschwert, bringt ihn sogar ins Fernsehen – wieder eines dieser unglaubwürdigen Ereignisse!
Henry und seine Frau Nessa trennten sich bereits vor Jahren. Grund dafür war eine Affäre Nessas mit einem anderen Mann. Doch obwohl sie diejenige ist, die einen Fehler beging, wird Henry als der Böse in der Familie angesehen, der schuld daran sei, dass die Familie zerbrach. Und Nessa, die natürlich (um alles noch klischeehafter zu machen) an Krebs leidet und nicht mehr lange zu leben hat, wird als arme Frau dargestellt, die bereut. Dabei schreit das Buch geradezu danach, Mitleid mit ihr zu empfinden. Dies wirkt allerdings so konstruiert und erzwungen, dass man nicht eine Sekunde mit ihr oder Henry leidet. Sohn Tom hat nach der Scheidung der Eltern den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen – die Trennung der Eltern hat ihn seelisch kaputt gemacht. Auch das wirkt merkwürdig, war Tom zu diesem Zeitpunkt doch schon ein junger Mann und kein verletzliches Kind mehr! Seine Frau und damit Henry Schwiegertochter ist abwechselnd mal freundlich und sympathisch, mal hinterhältiges, undurchschaubares Biest. Ein Dazwischen gibt es nicht, nur diese beiden Extreme. In Abbotts Roman sind die Charaktere und Situationen, wie sie sind – ohne logische Zusammenhänge, ohne wirkliche Hintergründe oder Erklärungen, die das Ganze dem Leser entsprechend nachvollziehbar machen.
Das alles passiert fünf Jahre vor dem tragischen Unfall von Henrys Enkel. Wer wie ich vermutet, dass die Handlung auf ebenjenen Schicksalstag hinausläuft, liegt falsch: Die Geschichte endet Jahre vorher ohne Verknüpfung zu dem Unglück. Es sind zwei völlig voneinander unabhängige Erzählungen. Das lässt den Leser mit Fragezeichen zurück Jedoch keinen „Ich will mehr wissen“-Fragezeichen, sondern denen der Art „Was soll das“ bzw. „Worin steckt hier die Logik“. Als einzige mögliche Erklärung sehe ich, dass sich Henry während der Geschichte zum einen mit seiner Familie versöhnt und er zum anderen lernt, zu seinen Fehlern zu stehen sowie sich und anderen zu vergeben. Der tragische Unfall führt nun dazu, dass er einen wichtigen Teil seiner zurück gewonnen Familie verliert und er wieder nicht in der Lage ist, zu verzeihen.
Was den Titel betrifft: Der ist ebenso unlogisch. Zwar hat Henry Cage ein Klavier, das er als einzigen Gegenstand seiner Kindheit besitzt und das ihn in jedes neue Zuhause begleitet, jedoch spielt das Musikinstrument keine Rolle in dem Roman, ist nicht mal ein wesentliches Element von Henrys Charakter. Daher passt „Die späte Ernte des Henry Cage“ deutlich besser als der Originaltitel – vermutlich ist es das erste Mal, dass ich so etwas erlebe!
Fazit:
David Abbotts Roman hätte wunderbar werden können. Hätte ihn ein anderer Autor geschrieben, wäre daraus eine atmosphärische, tiefgehende Geschichte geworden, die berührt. So ist es jedoch ein Buch, das keinen roten Faden aufweist, unrealistisch und unglaubwürdig in Ereignissen und Charakteren ist sowie keinerlei Logik oder Sinn hinter allem erkennen lässt. Die Lobeshymnen der Kritiker sind nicht nachvollziehbar und jede Minute ist in andere Bücher besser investiert. Dabei ist die Grundidee so gut – doch eine tolle Idee allein macht noch lange kein gelungenes Buch.
An Deiner Stelle hätte ich das Buch weg gelegt.
Mit einem so zähfließenden Roman macht man sich nur den Spaß am Lesen kaputt.
Ich hab da so ein Buch im Regal „Venushaar“ von Michail Schischkin, wenn ich nur daran denke will ich schon fernsehen. Leider ist es ein Rezi-Ex, sonst hätte ich es längst vertauscht :(
Oh, das wäre für mich wohl auch ein Albtraum: Ein Buch zu lesen, das einen absolut nicht fesselt, es aber nicht beenden zu können, weil man es lesen MUSS. :-/
Solche Fehlgriffe können einen ja leider immer passieren, egal wie gut man den eigenen Geschmack kennt – gerade bei einem Autor, von dem man noch nie etwas gelesen hat.
Weglegen konnte ich das Buch nicht. Zum einen hoffe ich doch immer darauf, dass sich alles besser (manche Bücher haben ja auch wirklich nur einen schlechten Anfang), zum anderen konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein so hochgelobtes Buch, dessen Inhaltsangabe ganz nach meinem Geschmack schien, mich so enttäuschen könnte. Davon abgesehen, breche ich selten Bücher ab. (in den letzten Jahren habe ich das eigentlich nur bei Audrey Niffeneggers „Die Frau des Zeitreisenden“ und bereits zweimal bei Martin Millars „Kalix“ getan).
Ich hoffe nur, meine vielen Anschaffungen der letzten Wochen werden mich nicht so enttäuschen ;)
Die Frau des Zeitreisenden hat mir eigentlich ganz gut gefallen, aber der Film war trotzdem besser – Eric Bana, zum Träumen ;)
Durch Kalix muss man sich echt durchwühlen, ich hab auch zwischendrin ca. 3 Monate pausiert muss ich zugeben. Martin Millar ist unterhaltsamer, wenn seine Bücher nicht allzu lang sind ;)
LG, Katarina :)
Viele schwärmen ja von „Die Frau des Zeitreisenden“, aber irgendwie wurde ich mit der Geschichte und den Protagonisten einfach nicht warm. Das lag aber in erster Linie daran, dass ich mir die Umsetzung ursprünglich ganz anders vorstellte: Ich hatte mir viel mehr zu der ganzen Zeitreise-Thematik und weniger Fokussierung auf die Beziehung (vor allem, wann sie wo miteinander schlafen, wo er sie berührt etc.) gewünscht und war dadurch dann irgendwie enttäuscht.
„Kalix“ werde ich auch noch eine dritte Chance geben (irgendwann in fernerer Zukunft), da die Story an sich ganz interessant finde und ich auch noch nie Bücher mit Werwölfen als Protagonisten gelesen habe. Allerdings werde ich anderen Büchern erstmal Vorrang geben ;)
Ich hab die Details der Beziehung in „Die Frau des Zeitreisenden“ ganz verdrängt, auf das Ende mit der Entjungferung in Detail hätte ich gut verzichten können.
Was mich enttäuschte, war dass das Buch sich stark am persönlichen Geschmack der Autorin orientiert und daher die Figuren und ihr Musikgeschmack etc. nicht so mein Favorit waren – der Film hat die Geschichte mehr Richtung Mainstream-Kultur gerückt, das gefiel mir besser.
Es gibt übrigens mittlerweile 2 Kalix Bände, vielleicht wusstest Du das ja schon :) Der zweite ist über 700 Seiten lang – ich hab mich bisher noch nicht ran getraut ;)
Ja, von dem zweiten Band hatte ich gehört. Das Cover hebt sich stilistisch dort aber sehr vom ersten ab, ist irgendwie im Comicstil gehalten. Rezensionen dazu habe ich bisher allerdings keine gelesen. Also falls du Teil 2 lesen solltest, bin ich sehr gespannt. Du bist ja mit Millars Schreibstil auch etwas vertrauter und kannst die Bücher dann auch besser beurteilen.
Ich bezweifle allerdings, dass ich den zweiten Band je lesen werde ;) Es sei denn, der erste nimmt irgendwo so eine starke Wendung, dass er mich doch noch fesselt und überzeugt.
Den Film zu „Die Frau des Zeitreisenden“ kenne ich leider gar nicht – ich dachte mir bislang: Wenn das Buch mir nicht gefiel, wird das auch der Film nicht ändern.
Aber gut zu wissen, dass diese Beziehungsdetails nicht nur mich abschreckten (auch wenn du gut darüber hinweg sehen konntest). Mich hat nicht gestört, dass es vorkam, sondern eher wie häufig und ausführlich. Da kann ich doch eigentlich ganz froh sein, das Ende nicht gelesen zu haben ;)
Oh „Die Frau des Zeitreisenden“ habe ich auch gelesen. Allerdings auf Englisch. Hab das damals beim International Book Festival in Edinburgh gekauft. Ich war am Anfang total verwirrt, also eigentlich war ich fast die ganze Zeit verwirrt. Aber irgendwie wars trotzdem gut, weil man gegen Ende dann den „mit-der-flachen-Hand-auf-die-Stirne-klatsch“-Drang hat, weil man auf einmal alles kapiert :)
Mal abgesehen davon, dass das Buch für mich nichts war: Solche Effekte finde ich eigentlich immer ganz gut. Ist ein Buch so geschrieben (oder auch eine TV-Serie, ich sag nur: LOST), ist man einfach gezwungen, selber mitzurätseln und zu grübeln, muss immer aufmerksam sein und selbst auf die kleinsten Details achten. Ich liiiiebe so etwas! :D
Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass Du das Ende nicht kennst, sonst hätte ich das nicht erzählt. Es ist auch nicht das Ende-Ende, sondern nur das letzte im Buch an das ich mich erinnere. Aber wenn Du es sowieso weg gelegt hast, dann ist es hoffentlich nicht so schlimm, dass ich mich hier darauf bezogen habe ;)
Der Film ist es wert geschaut zu werden, da kommen viele Zeitreisen drin vor. Und Eric Bana in Mädchenklamotten – muss man gesehen haben, sieht zum Schreien komisch aus :D
Es ist aber trotzdem ein Romantik-Film, nur gibt es keine ausführlichen Sexszenen. Ich glaub der ist entweder ab 6 oder ab 12 zugelassen :)
Ich selbst finde den Film niedlich und romantisch und ein bisschen kurios – eben wegen der Zeitreisen – und um einiges besser als das Buch.
Ich hoffe es ist okay, dass sich die Diskussion vom Piano Player zu „Die Frau des Zeitreisenden“ hin entwickelt hat ;)
Ich merke das oft auf meinem Blog, je mehr Leute das Buch kennen, desto mehr Rückmeldungen.
Wenn man ein Buch nicht gelesen hat, kann man selten viel dazu sagen und nachdem Du von dem Piano Player so enttäuscht warst, werde ich das Buch ganz bestimmt nicht lesen ;)
Also kommen wir zwangsläufig vom Hundertsten ins Tausendste, denn das hab ich nun wieder gelesen und kann mich stundenlang darüber auslassen ;)
LG, Katarina :)
Ach,das mit dem Ende ist ja nicht schlimm – da ich nicht vorhatte, das Buch irgendwann noch einmal zu lesen, hast du mir nichts vorweggenommen ;)
Deiner Beschreibung scheint der Film wirklich lohnenswerter als der Roman zu sein. Ich glaub, ich werde ihn mir bei Gelegenheit einmal ansehen – falls er mir nicht zusagen sollte, weiß ich zumindest, dass es nach 90Minuten zu Ende ist und ich mich nicht tagelang damit beschäftigen muss. ;)
Achso, dass sich die Kommentare vom Klavierspieler zu „Frau des Zeitreisenden“ entwickelt haben, ist keineswegs schlimm. Die Ursache der Entwicklung bzw. Gemeinsamkeit zwischen beiden Büchern war ja letzten Endes meine enttäuschte Leseerfahrung. Und nicht nur du kannst dich über ein Buch stundenlang auslassen – du hast ja meinen endloslangen Kommentar über „Die Stadt der träumenden Bücher“ gesehen ;) Doch ich find so einen Austausch immer interessant, gerade wenn Leseeindrücke auseinander gehen – das wirft immer ein ganz Neues Licht auf ein gelesenes Buch bzw. auf dessen Eigenschaften :)
Ein schönes Wochenende wünsche ich dir und allen anderen!
Hat Spaß gemacht mit die über „Die Frau des Zeitreisenden“ zu quatschen ;)
Hab ebenfalls ein schönes Wochenende.
Ich freue mich jetzt schon auf neue Beiträge :D
LG, Katarina :)